Dr. iur. Holger Bremenkamp
Rz. 50
§ 630h Abs. 5 S. 1 BGB nimmt die Rechtsprechung zur Beweislastumkehr bei groben (schweren) Behandlungsfehlern auf: Liegt ein grober Behandlungsfehler vor und ist dieser grundsätzlich geeignet, eine Verletzung des Lebens, des Körpers oder der Gesundheit der tatsächlich eingetretenen Art herbeizuführen, wird vermutet, dass der Behandlungsfehler für diese Verletzung ursächlich war. Wie die reichhaltige Kasuistik zeigt, hat diese Beweislastumkehr hohe praktische Relevanz. Die Beweislast für das Vorliegen eines groben Behandlungsfehlers verbleibt jedoch beim Patienten.
Rz. 51
Ein grober Behandlungsfehler ist anzunehmen, wenn der Arzt "eindeutig gegen bewährte ärztliche Behandlungsregeln oder gesicherte medizinische Erkenntnisse verstoßen und einen Fehler begangen hat, der aus objektiver Sicht nicht mehr verständlich erscheint, weil er einem Arzt schlechterdings nicht unterlaufen darf". Auch mehrere für sich genommen nicht besonders schwerwiegende Fehler können zusammengenommen als grob fehlerhaftes ärztliches Verhalten gewertet werden und eine Beweislastumkehr rechtfertigen.
Rz. 52
Im Diagnosebereich liegt nach der Rechtsprechung die Schwelle, von der ab ein Diagnoseirrtum als schwerer Behandlungsfehler zu gelten hat, besonders hoch, da die Diagnose oft mit Unsicherheiten belastet ist. Eine Beweislastumkehr kommt daher nur bei einem fundamentalen Diagnoseirrtum in Betracht, etwa bei ungenügender Auswertung eines Röntgenbildes oder bei Nichterkennen eines Herzinfarkts trotz deutlicher Symptome. Ist der Diagnoseirrtum nicht als grob zu qualifizieren, so stellt die folgerichtig unterlassene Befunderhebung regelmäßig keinen Anknüpfungspunkt für Beweiserleichterungen zur Schadensursächlichkeit dar: Ein Diagnosefehler wird nicht dadurch zum Befunderhebungsfehler, dass bei objektiv zutreffender Diagnosestellung noch weitere Befunde zu erheben gewesen wären. Im Bereich der Therapie kann ein grober Behandlungsfehler vorliegen, wenn der Arzt auf eindeutige Befunde nicht nach den gefestigten Regeln der ärztlichen Kunst reagiert, wenn er grundlos Standardmethoden zur Bekämpfung möglicher oder bekannter Risiken nicht anwendet oder wenn er die therapeutische Wirksamkeit seiner Behandlung nicht in der gebotenen Weise kontrolliert. Eine Beweislastumkehr kann schließlich auch bei groben Organisationsmängeln und grob fehlerhaftem Verhalten des nicht ärztlichen Personals angezeigt sein. Ein Abweichen von Ärztlichen Leitlinien impliziert nicht per se einen Behandlungsfehler, bedarf aber einer besonderen medizinischen Rechtfertigung; fehlt es daran und wurde die Leitlinie gerade zur Vermeidung des eingetretenen Schadens formuliert, ist eine Beweislastumkehr aber gerechtfertigt.
Rz. 53
Bei der Frage, ob ein Behandlungsfehler als grob anzusehen ist, handelt es sich um eine juristische Wertung, die das Gericht, nicht der Sachverständige vorzunehmen hat. Diese Bewertung muss aber in den Ausführungen eines Sachverständigen ihre tatsächliche Grundlage finden; ein grober Behandlungsfehler darf nicht entgegen dessen fachlichen Ausführungen bejaht werden. Denn gewöhnlich kann nur der medizinische Sachverständige den berufsspezifischen Sorgfaltsmaßstab ermitteln. Sind die Äußerungen des Sachverständigen widersprüchlich, so hat das Gericht sie zu hinterfragen: Zu klären ist insbesondere, ob der Sachverständige in seiner Würdigung einen Verstoß gegen elementare medizinische Erkenntnisse oder elementare Behandlungsstandards erkennt oder lediglich eine Fehlentscheidung in mehr oder minder schwieriger Lage. Widersprüchen zwischen Äußerungen mehrerer Sachverständiger hat das Gericht nachzugehen, auch wenn es sich um Privatgutachten handelt. Zu berücksichtigen ist jeweils das Gesamtgeschehen: Besondere Umstände wie erschwerte Behandlungsbedingungen können den Vorwurf mildern und zur Versagung einer Beweislastumkehr trotz Vorliegens eines erheblichen Fehlers führen. Auch kann eine Beweislastumkehr ausscheiden, wenn der Patient die Unklarheiten in der Aufklärung des Kausalverlaufs selbst schafft oder maßgeblich zu ihnen beiträgt, unabhängig davon, ob das Verhalten des Patienten als Mitverursachung gem. § 254 BGB zu werten wäre; § 630h Abs. 5 S. 1 BGB enthält diese Einschränkung freilich nicht explizit.
Rz. 54
Die Beweislastumkehr stellt keine Sanktion für ärztliches Fehlverhalten dar, sondern soll ein Ausgleich für Aufklärungserschwernisse sein, dafür nämlich, dass "die Aufklärung des Behandlungsgeschehens wegen des Gewichts des Behandlungsfehlers und seiner Bedeutung für die Behandlung in besonderer Weise erschwert worden ist, sodass der Arzt nach Treu und Glauben – also aus Billigkeitsgründen – dem Patienten den vollen Kausalitätsbeweis nicht zumuten kann". Die innere Rechtfertigung für diese richterrechtlich entwickelte Beweislastumkehr ist also darin zu sehen, dass durch den groben Behandlungsfehler Aufklärungserschwernisse in das Behandlungsgesc...