Rz. 21

Der Arzt schuldet dem Patienten nach § 276 BGB die im Verkehr erforderliche Sorgfalt. In ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung wurde dies konkretisiert im Sinne einer ärztlichen Pflicht, diejenigen Maßnahmen zu ergreifen, die von einem gewissenhaften und aufmerksamen Arzt aus der berufsfachlichen Sicht seines Fachgebiets vorausgesetzt und erwartet werden. Die Behandlung hat nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden, allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen. Maßgeblich ist – vertraglich wie deliktisch – bei ambulanter wie bei stationärer Betreuung der objektive Facharzt-Standard,[40] wozu auch allgemeine medizinische und naturwissenschaftliche Grundkenntnisse gehören.[41] § 630a Abs. 2 BGB, wonach die Behandlung nach den zum Zeitpunkt der Behandlung bestehenden allgemein anerkannten fachlichen Standards zu erfolgen hat, entspricht dieser Rechtsprechung: Eine Änderung des Haftungsmaßstabs ist nicht eingetreten. Um dem geschuldeten Standard auf Dauer zu genügen, trifft den Arzt die fortwährende Pflicht zur beruflichen Fortbildung[42] und zur Umsetzung neuer Erkenntnisse im Berufsalltag.[43]

 

Rz. 22

Da Maßstab die berufsfachlich gebotene und nicht (nur) die übliche Sorgfalt ist, entlastet eine generell eingerissene Nachlässigkeit den Arzt nicht.[44] Es herrscht ein objektiv-typisierender Fahrlässigkeitsbegriff, sodass es im Allgemeinen keine Rolle spielt, ob steuerbare räumliche oder personelle Engpässe die gebotene Behandlung erschwert haben. Subjektiv-individuelle Gesichtspunkte haben grundsätzlich keinen Einfluss auf das Maß der geschuldeten Sorgfalt.[45]

 

Rz. 23

In Eil- und Notfällen ist der zu fordernde medizinische Standard niedriger anzusetzen, soweit auch durch sorgfältige Organisation und Vorbereitung keine dem generellen Standard genügende Versorgung möglich ist. In diesem Fall hängt das Maß der vom Arzt geschuldeten Sorgfalt wesentlich von der Dringlichkeit der medizinischen Maßnahme ab.[46] Begibt sich ein Patient in der Nacht als Notfall in die Ambulanz eines Krankenhauses, ist von vornherein nicht mit den tagsüber bei voller ärztlicher Belegung vorauszusetzenden Verhältnissen zu rechnen.[47]

 

Rz. 24

Der gebotene medizinische Standard lässt sich meist nur mit Hilfe des medizinischen Sachverständigen feststellen,[48] dessen Äußerungen das Gericht kritisch auf Vollständigkeit und Widerspruchsfreiheit zu prüfen hat; das gilt sowohl für Widersprüche zwischen einzelnen Erklärungen desselben Sachverständigen als auch für Widersprüche zwischen Äußerungen mehrerer Sachverständiger.[49] Medizinischer und rechtlicher Sorgfaltsmaßstab fallen nicht auseinander, da aus rechtlicher Sicht keine anderen Anforderungen an die ärztliche Sorgfaltspflicht gestellt werden können als aus medizinischer Sicht.[50] Gleichwohl erfordert die Beurteilung, ob ein Verstoß gegen die ärztliche Sorgfaltspflicht und damit ein Behandlungsfehler vorliegt, eine rechtliche Bewertung der Pflichten, die aufgrund des Behandlungsvertrags oder der Behandlungsübernahme zu erfüllen sind.[51]

[40] BGH, Urt. v. 29.11.199 – VI ZR 189/93, NJW 1995, 776; BGH, Urt. v. 16.3.1999 – VI ZR 34/98, NJW 1999, 1778; BGHZ 188, 29 Rn 9, 12; BGH, Urt. v. 15.4.2014 – VI ZR 382/12, NJW 2015, 1601, nicht dagegen ein (höherer) "Chefarztstandard" bei Behandlung durch den Chefarzt, OLG Köln, Beschl. v. 22.1.2018 – 5 U 101/17, juris; Pauge/Offenloch, Rn 173; Geiß/Greiner, Kap. B Rn 2; Martis/Winkhart, B 24.
[41] BGH, Beschl. v. 9.6.2009 – VI ZR 138/08, VersR 2009, 1405 Rn 3; Geiß/Greiner, Kap. B Rn 2.
[42] BGHZ 113, 297, 304; Giesen, Rn 77 ff.
[44] BGHZ 8, 138, 140.
[45] BGHZ 144, 296, 306; BGH, Urt. v. 13.2.2001 – VI ZR 34/00, VersR 2001, 646 mit Anm. Gehrlein, MDR 2001, 565; BGH, Urt. v. 6.5.2003 – VI ZR 259/02, VersR 2003, 1128, 1130; MüKo/Wagner, § 630a Rn 120; Laufs/Kern/Rehborn, § 96 Rn 29; Martis/Winkhart, B 24a.
[46] BGH, Urt. v. 18.12.1984 – VI ZR 23/83, NJW 1985, 1392, 1393; Laufs/Kern/Rehborn, § 96 Rn 43; Spickhoff/Greiner, § 839 Rn 28.
[47] OLG Karlsruhe, Urt. v. 25.1.1989 – 7 U 155/87, VersR 1990, 53, 54.
[49] BGHZ 188, 29 Rn 17; OLG Karlsruhe, Urt. v. 17.2.2016 – 7 U 32/13, juris.
[50] BGH, Urt. v. 29.11.1994 – VI ZR 189/93, NJW 1995, 776.

1. Diagnose- und Befunderhebungsfehler

 

Rz. 25

Die Erfolgschancen einer ärztlichen Behandlung hängen zunächst entscheidend von Richtigkeit und Genauigkeit der Diagnose ab. Der Arzt muss daher vor der Therapie stets das Krankheitsbild abklären. Erst auf der Grundlage einer möglichst exakten und umfassenden Befunderhebung darf er mit der Behandlung beginnen (Pflicht zur Diagnosestellung).[52] Andererseits hat er Überdiagnostik zu vermeiden; sie kann, insbesondere bei invasivem Vorgehen, zur Haftun...

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