Dr. iur. Holger Bremenkamp
Rz. 74
Dem Arzt steht bei ungenügender Aufklärung gem. § 630h Abs. 2 S. 2 BGB der Einwand offen, der Patient hätte auch bei ordnungsgemäßer Aufklärung in die Maßnahme eingewilligt (hypothetische Einwilligung bzw. Einwand des rechtmäßigen Alternativverhaltens). Das nimmt die frühere Rechtsprechung auf, die maßgeblich bleibt: Durch das Patientenrechtegesetz sollte die bisherige Rechtsprechung gesetzlich kodifiziert und nicht etwa modifiziert werden. Hat die Behandlungsseite substantiiert vorgetragen, der Patient hätte bei ordnungsgemäßer Aufklärung den Eingriff in gleicher Weise durchführen lassen, obliegt es dem Patienten, plausible Gründe dafür darzulegen, dass und warum gerade er nach seinen persönlichen Verhältnissen bei gehöriger Aufklärung vor einem echten Entscheidungskonflikt gestanden hätte. Gelingt ihm dies, so ist dem Arzt der Einwand der hypothetischen Einwilligung regelmäßig versperrt: Er hat dann nämlich seinerseits zu beweisen, dass der Patient sich für den Eingriff entschieden hätte. Die Aufgabe der älteren Rechtsprechung, nach der der Patient nicht nur den echten Entscheidungskonflikt, sondern darüber hinaus die Ablehnung der Behandlung aufgrund eben dieses Konflikts plausibel zu machen hatte, ist zwar dogmatisch nachvollziehbar, aber sicherlich Hauptgrund des Erfolgs nachgeschobener Aufklärungsrügen. Von vornherein nicht beachtlich ist der Einwand des rechtmäßigen Alternativerhaltens beim nicht ordnungsgemäß aufgeklärten Lebendorganspender, weil dies dem Schutzzweck der gesteigerten Aufklärungsanforderungen des § 8 TPG widerspräche.
Rz. 75
Ob der Patient sich für den Fall ordnungsgemäßer Aufklärung in einem echten Entscheidungskonflikt befunden hätte, wird der Tatrichter in der Regel nur nach einer persönlichen Anhörung des Patienten beurteilen können. Dabei sollen nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs an die Substantiierung des Entscheidungskonflikts nicht zu hohe Anforderungen gestellt werden. Abzustellen sei auf die persönliche Entscheidungssituation des konkreten Patienten, nicht dagegen auf die Verhaltensweise eines verständigen Patienten; angesichts des Selbstbestimmungsrechts des Patienten sei dessen Entscheidung auch dann zu akzeptieren, wenn sie aus medizinischer Sicht unvernünftig sei. Ob diese Rechtsprechung die Idee des selbstbestimmten Patienten nicht überstrapaziert – der "reale" Patient will regelmäßig nicht so sehr selbstbestimmt entscheiden als sich vielmehr der Entscheidung seines Arztes anvertrauen –, sei dahingestellt.
Rz. 76
Der Patient muss also nicht darlegen, wie er sich tatsächlich entschieden hätte. Er soll nur einsichtig machen, dass ihm die vollständige Aufklärung über das Für und Wider des ärztlichen Eingriffs vor die Frage gestellt hätte, ob er zustimmen solle oder nicht. So wurde es als plausibel angesehen, wenn der Patient geltend machte, er hätte noch einige Tage zugewartet, um sich schlüssig zu werden oder um einen anderen Arzt zu konsultieren. Im Sonderfall der zu spät erfolgten Aufklärung verlangt der Bundesgerichtshof dagegen keinen näheren Vortrag des Patienten zu einem Entscheidungskonflikt: Bereits die Lebenserfahrung lege nahe, dass die Entscheidungsfreiheit des Patienten im Hinblick auf den psychischen und organisatorischen Druck eingeschränkt gewesen sei. Auch in diesem Fall kann aber der Arzt den Nachweis einer hypothetischen Einwilligung führen, an den freilich strenge Anforderungen zu stellen sind; können zu einem Entscheidungskonflikt deshalb keine Feststellungen getroffen werden, weil der Patient zwischenzeitlich verstorben ist, so geht das zu Lasten seiner Erben.