Rz. 45

Der gewöhnliche Aufenthalt des Minderjährigen ist dort, wo sein tatsächlicher Lebensmittelpunkt ist.[104] Die Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts erfordert keinen rechtsgeschäftlichen Willen, sondern verlangt in der Regel eine gewisse Dauer – etwa sechs Monate[105] – und darüber hinaus Bindungen insbesondere in familiärer Hinsicht, also eine Eingliederung in die soziale Umwelt des Aufenthaltsortes.[106] Der Besuch der Schule oder des Kindergartens, Kontakte mit vielen Freunden oder den Großeltern eines Elternteils sind Indizien für eine verfestigte soziale Eingliederung. Wenn die soziale Komponente sich verstärkt auswirkt, kann der Sechsmonatszeitraum auch unterschritten werden[107] (vgl. auch die – unbeschadet abkommensautonomer Auslegung weitgehend übertragbaren – diesbezüglichen Ausführungen zur Brüssel IIa-Verordnung (siehe Rdn 15).[108]

Der Sechsmonatsmaßstab ist nur eine Faustregel, die der Überprüfung in jedem Einzelfall bedarf.[109] Familiäre Bindungen spielen eine umso größere Rolle, je jünger das Kind ist.[110]

Ob sich ein Kind in einem anderen Vertragsstaat gewöhnlich aufhält, bestimmt sich im Wesentlichen aus der Sicht des Kindes, nicht nach dem Willen der Eltern.[111]

Melderechtliche Fragen treten hinter den tatsächlichen Umständen zurück. Sie spielen allenfalls eine formale Rolle.[112]

 

Rz. 46

Ein gewöhnlicher Aufenthaltsort wird allerdings grundsätzlich schon dann begründet, wenn sich aus den Umständen ergibt, dass der Aufenthalt an diesem Ort auf längere Dauer angelegt ist, er künftig Daseinsmittelpunkt sein soll.[113] Lässt sich dies feststellen, so kommt es nicht darauf an, ob der Wechsel des Aufenthaltsortes bereits längere Zeit zurückliegt.[114] Hat ein Kind an zwei Orten einen gewöhnlichen Aufenthalt, ist das MSA nicht anwendbar.[115]

Es ist auch nicht entscheidend, ob der gewöhnliche Aufenthalt mit oder ohne Willen des Sorgeberechtigten begründet worden ist. Das gilt selbst im Falle des so genannten legal kidnapping, wenn also innerhalb der Jahresfrist des Art. 12 Abs. 2 HKÜ kein Antrag auf Rückführung des Kindes gestellt wird (siehe dazu Rdn 106).[116] Es muss vermieden werden, dass sich ein Elternteil zur Verbesserung seiner Sorgerechtsposition die Zuständigkeit eines ausländischen Gerichts durch das legal kidnapping erschleicht.[117]

 

Rz. 47

Auch in den Entführungsfällen bzw. in den Fällen, in denen der Umgangsberechtigte das Kind zurückhält, kommt es nach einem gewissen Zeitablauf zu einer sozialen Einbindung in die Lebensverhältnisse am neuen Aufenthaltsort und damit zur Verlegung des tatsächlichen Lebensmittelpunktes.[118]

Ein während eines anhängigen Verfahrens erfolgter Aufenthaltswechsel kann also, selbst wenn dem ein so genannter Entführungsfall zugrunde liegt, grundsätzlich geeignet sein, eine zunächst vorhandene internationale Zuständigkeit zu beseitigen.[119] Denn das MSA kennt – anders als Art. 8 Abs. 1 Brüssel IIa-VO (siehe dazu Rdn 23) – keine perpetuatio fori.[120] Wechselt daher das Kind von einem Verordnungsmitgliedstaat in einen Staat, der Vertragsstaat des MSA ist, so gibt es keine Zuständigkeitsfortdauer.[121]

 

Rz. 48

Der gewöhnliche Aufenthalt wird allerdings nicht schon durch den Entführungsakt an sich verändert. Denn das Erschleichen einer anderen Aufenthaltszuständigkeit durch willkürliches Verbringen eines Kindes muss verhindert werden. Dem kann hinreichend sicher durch die strenge Prüfung des Begriffs des gewöhnlichen Aufenthalts nach Art. 1 MSA begegnet werden.[122] Ein entgegenstehender Wille des sorgeberechtigten Elternteils spricht eher gegen die Verfestigung zum gewöhnlichen Aufenthalt.[123]

[104] BGH FamRZ 2005, 1540; 1981, 135; OLG Bremen NJW 2016, 655; OLG Stuttgart FamRZ 2013, 49; OLG Hamm FamFR 2012, 141, m.z.w.N.; OLG Nürnberg FamRZ 2003, 163; OLG Stuttgart FamRZ 1997, 51; AG Saarbrücken FamRZ 2002, 45; vgl. zum gewöhnlichen Aufenthalt Winkler von Mohrenfels, FPR 2001, 189.
[105] OLG Bamberg Kind-Prax 2000, 61, 62; FamRZ 1990, 1135; OLG Celle FF 1999, 87; OLG Karlsruhe FamRZ 1993, 96; OLG Hamm FamRZ 1991, 1466 m. Anm. Henrich; FamRZ 1989, 1109; AG Schleswig FamRZ 2001, 933; in Entführungsfällen kann nach unten abgewichen werden: OLG Hamm FamRZ 1991, 1466; 1991, 1346; vgl. auch BGH FamRZ 1997, 1070.
[106] OLG Nürnberg FamRZ 2003, 163; OLG Rostock FamRZ 2001, 642; OLG Schleswig FamRZ 2000, 1426; OLG Hamm NJW-RR 1997, 5; FamRZ 1991, 1346; 1991, 1466; 1989, 1109; OLG Stuttgart FamRZ 1997, 51; OLG Karlsruhe FamRZ 2003, 955; 2003, 956; FamRZ 1993, 96; OLG Köln FamRZ 1991, 363; AG Saarbrücken FamRZ 2002, 45.
[107] OLG Hamm FamRZ 1991, 1346; 1991, 1466; 1989, 1109; OLG Stuttgart FamRZ 2003, 959.
[108] BGH FamRZ 1981, 135; NJW 1993, 2047; OLG Stuttgart FamRZ 1997, 51; ausführlich Kemper/Schreiber/Völker/Clausius, HK-FamFG, § 152 Rn 3.
[109] OLG Stuttgart FamRZ 1997, 51.
[110] OLG Schleswig FamRZ 2000, 1426.
[111] OLG Hamm FamRZ 1999, 948.
[112] OLG Schleswig FamRZ 2000, 1426; vgl. OLG Bamberg Kind-Prax 2000, 61.
[113] KG IPRax 1998, 274; OLG Celle FamRZ 1993, 95.
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