Prof. Karl-Otto Bergmann, Dr. Carolin Wever
Rz. 122
Bis heute steht eine höchstrichterliche Entscheidung aus, ob mit dem Austausch des Begriffes "Ereignis" gegen "Schadenereignis" in Ziff. 1.1 AHB eine Rückkehr zur Schadenereignistheorie bewirkt wurde. Erst recht fehlt ein Urteil aus dem Bereich Arzthaftpflichtversicherung. Die derzeitige Fassung der AHB ist für Versicherer und Versicherungsnehmer mit Unsicherheiten verbunden, die nach § 305c Abs. 2 BGB im Zweifel zu Lasten des Versicherers gehen.
Rz. 123
Gewichtige Gründe sprechen für die Verstoßtheorie und dafür, gerade in der Arzthaftpflichtversicherung an das Handeln bzw. das Unterlassen als maßgeblichen Zeitpunkt für den Versicherungsschutz anzuknüpfen. Zwar gewähren die AVB der Berufshaftpflichtversicherung anderer freier Berufe Versicherungsschutz ausdrücklich für einen Verstoß des Versicherungsnehmers, während eine solche Bestimmung in den BBR fehlt. Der BGH hat aber deutlich gemacht, dass der Formulierung anderer Versicherungsbedingungen keine besondere Bedeutung für die Auslegung der AHB zukomme. Ebenso wenig seien die Entstehungsgeschichte und die Intentionen der Versicherer bei der Formulierung von Klauseln entscheidend. Schon in dem Urteil aus dem Jahr 1957 hatte der BGH zudem darauf hingewiesen, dass für die Aufnahme des Wortes "Schadenereignis" in Ziff. 1 AHB kein Bedarf bestehe, da das Ereignis ohnehin Voraussetzung für einen Personen- oder Sachschaden sei. Einen sachlichen Unterschied zwischen "Ereignis" und "Schadenereignis" gebe es nicht. Man wird deshalb der Umformulierung der AHB kein allzu großes Gewicht beimessen können.
Rz. 124
Von wesentlicher Bedeutung für die Auslegung der AHB ist nach Auffassung des BGH die Erwartungshaltung des durchschnittlichen Versicherungsnehmers gegenüber der Haftpflichtversicherung. Wer einen Haftpflichtversicherungsvertrag abschließe, habe ein berechtigtes Interesse daran, dass in allen Fällen, in denen das haftungsbegründende Ereignis in den Haftungszeitraum falle, der Versicherer den vollen Versicherungsschutz gewähre, und zwar auch dann, wenn die schädigenden Folgen erst nach dem Ende der vereinbarten Versicherungszeit hervorträten. Würde man dagegen der Schadenereignis- oder Folgeereignistheorie folgen, müsse man seinen Versicherungsschutz ja auch aufrechterhalten, wenn man den Beruf oder den Betrieb schon aufgegeben habe.
Rz. 125
Das Schadenereignis setzt nicht voraus, dass sich der Schaden – beispielsweise bei einer Strahlentherapie – umfassend im Körper des Patienten manifestiert. Der Zeitpunkt des Schadenereignisses und damit der Beginn des Versicherungsfalls, liegt bereits beim Eintritt erster Schadenmerkmale vor.
Rz. 126
Der BGH sieht den Haftpflichtversicherer wegen der Rückstellungen für Spätschäden auch nicht als unberechtigt benachteiligt an. Die Anlage von Schadenreserven gehöre zu den notwendigen Begleiterscheinungen des Haftpflichtversicherungsgeschäftes. Das OLG Nürnberg verweist darauf, dass dem Versicherungsnehmer redlicherweise keine Nachversicherung angesonnen werden könne, da unklar sei, welcher Nachversicherungszeitraum überhaupt zugrunde gelegt werde. Ebenso wenig sei der Versicherungsnehmer nach Auffassung des BGH benachteiligt, wenn er für Handlungen, die er vor Versicherungsbeginn vorgenommen habe, nach der Verstoßtheorie nicht versichert sei. Der Abschluss einer Berufshaftpflichtversicherung könne bei Aufnahme einer Tätigkeit mit besonderen Haftungsrisiken erwartet werden.
Rz. 127
Mit beachtlichen Erwägungen vertritt Weidinger die Auffassung, dass das OLG Nürnberg nur über die Auslegung des "Ereignis"-Begriffes der AHBStr (Allgemeine Versicherungsbedingungen für die Haftpflichtversicherung von genehmigter Tätigkeit mit Kernbrennstoffen und sonstigen radioaktiven Stoffen außerhalb von Atomanlagen) und nicht über die Auslegung des Begriffes "Schadenereignis" der AHB entschieden hat. Solange eine höchstrichterliche Rechtsprechung zu dieser Frage nicht vorliegt, wird man der Auffassung Weidingers folgen müssen, dass bei endgültigem Risikowegfall, also endgültiger Berufsaufgabe oder Tod des Versicherungsnehmers das Risiko eines erst danach eingetretenen iatrogenen Schadenereignisses nur durch eine Nachhaftungsversicherung sicher gedeckt ist.