Rz. 10
Liegt ein "wichtiger Grund" vor, besteht ein einklagbarer Anspruch. Der Berechtigte erhält eine gerechte Abfindung, wie sie der Definition der Abfindung entspricht – sei es durch außergerichtlichen oder gerichtlichen Vergleich oder durch Urteil. Versicherer vertreten oft die Auffassung, ein "wichtiger Grund" sei stets gegeben, da der Geschädigte grundsätzlich Interesse an möglichst viel Geld in einer Summe habe. Da der Versicherer aber das Druckmittel des Abbruchs der Verhandlungen allein in seiner Hand hat, weil der Geschädigte gerade keinen Anspruch auf Abfindungsvergleich hat, liegt auch hier wieder die wirtschaftliche Macht in den Händen der Assekuranz, wieder einmal zum Nachteil des Geschädigten. Denn der ist vielleicht auf das Geld dringend angewiesen ("wichtiger Grund"), aber andererseits auch nicht um jeden Preis. Und so kann ein Versicherer den Geschädigten "am langen Arm verhungern" lassen!
Rz. 11
Einen interessanten Denkansatz bietet Schwintowski, Schutzfunktion und wichtiger Grund in § 843 Abs. 3 BGB, VersR 2010, 149 ff.: Ob ein "wichtiger Grund" vorliegt, ist stets aus der Sicht des Geschädigten zu beurteilen. Alles, was für ihn günstig ist, rechtfertigt die Annahme eines "wichtigen Grundes". Leider folgt ihm die überwiegende Rechtsprechung in der Beurteilung dieser Frage nicht.
Rz. 12
Unter Kapitalbetrag versteht man den Betrag, der während der voraussichtlichen Laufzeit der Rente zusammen mit dem Zinsertrag ausreicht, die an sich geschuldeten Renten während der Laufzeit zu zahlen (BGH v. 8.1.1981 – VI ZR 128/79 – zfs 1981, 105). Mit anderen Worten: Von dem Kapital soll am Ende der Laufzeit nichts mehr übrig sein, Kapital und Zinsen müssen für die Rentenzahlungen im vorgegebenen Zeitraum ausreichen. Dabei ist aber auch zusätzlich der ersparte Verwaltungsaufwand des Versicherers zu beachten, was sich betragserhöhend auszuwirken hat (Lang, VersR 2005, 894).
Rz. 13
Die wenigen Entscheidungen der Gerichte zur Kapitalisierung nach § 843 Abs. 3 BGB kommen im Rahmen von § 287 ZPO – freie Beweiswürdigung – in aller Regel zu befriedigenden Ergebnissen. Es sind dies folgende Entscheidungen:
a) Urteil des BGH
Rz. 14
Nach der Entscheidung des BGH v. 8.1.1981 (VI ZR 128/79 – zfs 1981, 105) sind bei der Kapitalisierung u.a. zu berücksichtigen
▪ |
die Rentendynamik, |
▪ |
der Kapitalzinssatz, vermindert um die Verwaltungskosten des Kapitals, und die Steuern auf die Zinsen. |
b) Beweisbeschluss des OLG Frankfurt am Main
Rz. 15
Der BGH hat mit Urt. v. 8.1.1981 die Sache an das OLG Frankfurt zurückverwiesen. In diesem erneuten Verfahren hat das OLG einen Beweisbeschluss erlassen (Beschl. v. 22.2.1984 – 13 U 148/76, abgedr. bei Eckelmann/Nehls, Schadensersatz bei Verletzung und Tötung, 1987, S. 241). Auf Grund dieses Beschlusses errechnet der versicherungsmathematische Sachverständige einen Barwert für den Verdienstausfall von 1,3 Millionen DM (1984!). Auf dieser Basis haben sich die Parteien verglichen, sodass es nicht zu einem Urteil gekommen ist.
Rz. 16
Der Beschluss enthält beachtliche Hinweise zur Berechnung des Barwertes:
▪ |
Auszugehen ist von der durchschnittlichen jährlichen statistischen Rendite fest verzinslicher Wertpapiere; |
▪ |
dieser Zinssatz ist wegen Anlagekosten und Steuern um 2 % zu reduzieren; |
▪ |
ferner ist die Rentendynamik zu beachten; |
▪ |
für die Zukunft (ab 1985) wurde ein Rechnungszinsfuß von 2 % zugrunde gelegt. |
c) Urteil des LG Stuttgart
Rz. 17
Das Urteil des LG Stuttgart v. 15.12.2004 (14 O 542/01 – SVR 2005, 188 = DAR 2007, 467 ff.) ist seit Bestehen des BGB – seit über 100 Jahren – die erste veröffentlichte Entscheidung, in der Barwerte nach § 843 Abs. 3 BGB berechnet werden. Die Entscheidung geht von folgenden Voraussetzungen aus:
▪ |
Der reduzierte Kapitalmarktzinsfuß beträgt 3,75 %. Der nach Rechtsprechung und Literatur vermeintlich üblichen Abzinsung von 5 % wird nicht gefolgt. |
▪ |
Es ist die Rentendynamik zu beachten. |
▪ |
Bei Verdienstausfall kann zurzeit eine Rentendynamik über die Inflationsrate hinaus nicht angenommen werden. |
Rz. 18
Anders ist die Entwicklung bei den vermehrten Bedürfnissen:
▪ |
Im Ergebnis geht das LG von einer Steigerung von jährlich über 4 % aus. |
▪ |
Gerechnet wird mit Lebenserwartung und Zeitrentenwerten. |
d) Urteil des LG Köln
Rz. 19
Das LG Köln errechnet einen Barwert nach § 110 SGB VII (LG Köln, Urt. v. 9.2.2005 – 25 O 649/03 – VersR 2005, 710 ff.). Die klagende Berufsgenossenschaft nahm einen Arbeitgeber in Rückgriff. Dieser hatte ihr die an einen Verletzten zu zahlenden Renten zu erstatten. Anstelle der Rente verlangte die Berufsgenossenschaft den Kapitalwert. Das LG errechnete diesen Barwert unter folgenden Vorgaben:
▪ |
der Kapitalisierungszinsfuß beträgt für die Zukunft 4 %; |
▪ |
die Rentendynamik 1,5 % und |
▪ |
der Rechnungszinsfuß damit (4 minus 1,5 =) 2,5 %; |
▪ |
gerechnet wird mit Lebenserwartung und einem Zeitrentenwert. |
Anmerkung: Ein Abzug wegen Steuern auf Zinsen wurde nicht vorgenommen. Die Berufsgenossenschaften entrichten keine Steuern.