Rz. 80
Mit einer lebenslänglichen Berechnung kann z.B. bei "vermehrten Bedürfnissen" und "lebenslangem Pflegebedarf" gerechnet werden, mit Einschränkungen bzw. Abzügen auch beim "Haushaltsführungsschaden"
Rz. 81
Dabei muss ggf. dem Umstand reduzierter Lebenserwartung des Verletzten Rechnung getragen werden. Obwohl die Lebenserwartung Schwerverletzter in den letzten Jahren aufgrund verbesserter medizinischer Versorgung deutlich zugenommen hat, sind aber gleichwohl u.U je nach der individuellen Situation Abschläge bei der Lebenserwartung vorzunehmen. Statistiken hierzu gibt es nicht, sodass die Abschläge frei verhandelbar sind. Sie sollten aber allenfalls minimal sein.
Rz. 82
Außerdem ist im Rahmen einer "überholenden Kausalität" ggf. auch eine unfallunabhängige zukünftige Entwicklung zu berücksichtigen (z.B. der Verletzte war Diabetiker oder hatte Osteoporose).
Beispiel
Fall des LG Stuttgart (DAR 2007, 467): Der Verletzte hat Anspruch wegen vermehrter Bedürfnisse auf eine jährliche Schadensersatzrente in Höhe von 2.040 EUR. Er wurde am 2.1.1958 geboren. Stichtag 1.1.2005. Wie hoch ist der Barwert? Es handelt sich um eine lebenslängliche Leibrente auf ein Leben.
a) Berechnung nach Empfehlung Nehls
Rz. 83
Die – versicherungsfreundlichen – Kapitalisierungstabellen von Küppersbusch/Höher erwähnten bis zur 9. Auflage nur Zinsfüße von > 4 %. Dass daneben wesentlich differenziertere Tabellen von Nehls existierten, wussten die meisten Anwälte nicht und so kamen diese in der Praxis in aller Regel auch nicht zur Anwendung. Deshalb soll an dieser Stelle den Tabellen von Nehls Raum gegeben werden, um die enorme Praxisrelevanz der Wahl des richtigen Zinsfußes einmal in aller Deutlichkeit vor Augen zu führen. Denn je größer der monatliche zu kapitalisierende Betrag ist, umso dramatischer ist die Differenz bei einer falschen Wahl des Zinsfußes. Bei monatlich 5.000 EUR eines 25-jährigen Mannes bedeutet lebenslange Kapitalisierung mit 5 % (1.086.060 EUR) statt mit "nur" 3 % (1.492.720 EUR) immerhin einen Unterschied von 405.660 EUR! Welcher Anwalt kann bei einem solchen Fehler noch ruhig schlafen?
Rz. 84
Näherungsweise Lösung mit den Tabellen 1 und 2 (siehe § 14 Rdn 19 f.):
▪ |
Welches ist der einschlägige Faktor? |
▪ |
Vorfragen: Wie hoch ist der Rechnungszinsfuß und wie viele Jahre sind anzusetzen? |
Rz. 85
Folgen wir hinsichtlich des reduzierten Kapitalmarktzinsfußes dem LG Stuttgart: 3,75 %. Wie hoch ist die Rentendynamik? Nach dem Statistischen Bundesamt (Preise in Deutschland 2005) nahmen die Preise für Gesundheit (Medikamente, Arztbesuch usw.) von 2000 bis 2004 um 23,4 % zu, das bedeutet pro Jahr eine Preissteigerungsrate von 4,5 %. Es soll für die Zukunft von 4,25 % ausgegangen werden. Wie lautet der Rechnungszinsfuß? Rechnungszinsfuß gleich reduzierter Kapitalmarktzinsfuß minus Rentendynamik gleich 3,75 minus 4,25 gleich minus (!) 0,5 %. Auch wenn die Preissteigerungen im Bereich Gesundheit gegenwärtig niedriger liegen (aktuell 1,3 % von 2019 bis 2020), ergibt sich aufgrund des deutlich gesunkenen Kapitalmarktzinses im Ergebnis gleichwohl ein vergleichbarer negativer Rechnungszinsfuß.
Rz. 86
Wie viele Jahre sind anzunehmen? V wurde am 2.1.2005 47 Jahre alt. Kaufmännisch gerundetes Alter am 1.1.2005 (Stichtag) 47 Jahre. Nach der Tabelle 1 (zugrunde gelegt wird Sterbetafel 2005/2007) hat ein Mann im Alter von 47 Jahren eine durchschnittliche Lebenserwartung von 31,72 Jahren. Im Hinblick auf die Zunahme der Lebenserwartung in der Zukunft kann auf 32 aufgerundet werden. Die Tabelle weist keinen Faktor für minus 0,5 aus. Der Faktor für 32 Jahre, Zinsfuß 0 ist 32, d.h. der Faktor entspricht der Laufzeit. Bei minus 1 und 32 Jahren lautet der Faktor 37,729. Es errechnet sich folgender Mittelwert (32 plus 37,729 durch 2 gleich) 34,865. Dieser Faktor ist dem Faktor bei minus 0,5 % nahe. Wie lautet der Barwert? Faktor 34,865 mal Jahresrente 2.040 EUR gleich 71.125 EUR.
b) Versicherungsmathematische Einwendungen
Rz. 87
Versicherungsmathematisch wird gegen die Faktoren eingewendet, sie seien nicht einer Tabelle entnommen worden, in der die Sterbewahrscheinlichkeit bereits eingearbeitet ist. Die Arbeit mit durchschnittlicher Lebenserwartung und Zeitrente sei falsch. Der Vorwurf wird zu Unrecht erhoben. Zum einen ist die Sterbewahrscheinlichkeit in der durchschnittlichen Lebenserwartung enthalten. Der Unterschied ist sehr gering und im Rahmen von § 287 ZPO nicht beachtlich.
c) Lösung durch "capitalisator"
Rz. 88
Der "capitalisator" ermittelt folgenden versicherungsmathematischen Barwert – Sterbetafel 2005/2007, Mortalitätsrente auf ein Leben, Mann Alter 47 Jahre, sofort beginnend, lebenslänglich, Kapitalisierungszinsfuß (hier Rechnungszinsfuß) minus 0,5 %, vierteljährlich vorschüssig, Jahresrente 2.040 EUR, 71.158 EUR.
d) Berechnungsweise Versicherer
Rz. 89
Liegt ein "wichtiger Grund" nicht vor, wird die Assekuranz hier zu folgendem Angebot gelangen – es wird unterstellt, dass die Assekuranz die Jahresrente von 2.040 EUR akzeptiert: Sie richtet sich nach der (seinerzeit gültigen) Tabelle I/1 von Küppersbusch (Ersatzansprüche bei Personenschaden, 13. Auflage 2020, lebenslängliche Leibrente,...