Rz. 55
Zur täglichen Praxis der Regulierung von Personenschäden gehört die Kapitalisierung von laufenden Schadensersatzansprüchen, z.B. nach einem Verkehrsunfall. Strittig ist die Höhe des Rechnungszinsfußes. Er ist der entscheidende Faktor bei der Berechnung des Barwertes: Je niedriger der Rechnungszinsfuß, desto höher ist der Barwert. Seit Jahrzehnten bestimmen die Versicherer die Kapitalisierungspraxis. Der Verletzte darf Kapital nur verlangen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt. An diesem fehlt es in der Regel. Fazit: Der Versicherer muss nicht kapitalisieren. Er tut es dennoch, aber mit einem Zinsfuß von 5 Prozent. Dieser Prozentsatz ist – wie nachstehend dargestellt wird – viel zu hoch.
Rz. 56
Beachte
Je niedriger der Rechnungszinsfuß ist, desto höher ist der Barwert.
Die beiden Rechnungsfaktoren Rentendynamik und Kapitalmarktzinsfuß ergeben den Rechnungszinsfuß nach der versicherungsmathematischen Formel:
Zitat
"Rechnungszinsfuß = Kapitalmarktzinsfuß minus Rentendynamik"
Rz. 57
Bei einem reduzierten Kapitalmarktzinsfuß von 3,75 und einer Rentendynamik von 1,25 errechnet sich folgender Rechnungszinsfuß = 3,75 minus 1,25 = 2,5 %.
Rz. 58
Bemerkenswert ist, dass sogar Küppersbusch in "Ersatzansprüche bei Personenschaden" innerhalb derselben Auflage (10. Auflage) eingestehen musste, dass mit niedrigeren Zinsfüßen gearbeitet werden muss. In dem Grundwerk der 9. Auflage führt er noch aus, dass in der Praxis "nahezu durchweg mit einem Zinsfuß von 5 %" gerechnet werde (S. 258, Rn 869 und S. 263 – Anhang). In dem im Jahre 2007 herausgekommenen Nachtrag hat er aber – wohl die Augen nicht mehr vor der Realität verschließend – für das gesamte Tabellenwerk nun auch endlich eine Spalte mit einem Zinsfuß von 3 % aufgenommen und dafür den – ohnehin völlig unrealistischen – Zinsfuß von 6 % herausgenommen. In der aktuellen Auflage geht Küppersbusch/Höher noch immer von einem bei außergerichtlicher Kapitalisierung üblichen und angemessenen Zinssatz von 3–5 % aus (Küppersbusch/Höher, Ersatzansprüche bei Personenschaden, 13. Auflage 2020, Rn 869) und liefert immerhin Kapitalisierungstabellen von 2,5 % bis 5,5 %.
Rz. 59
Entgegen seiner Ansicht ist das sehr wohl ein ganz klares Signal in eine neue – übrigens eindeutig richtige – Richtung: Die Kapitalisierungszinsfüße müssen weit niedriger angesetzt werden, ob das der Assekuranz gefällt oder nicht. Dieser Umstand muss auch Eingang in die Rechtsprechung finden. Also muss diese Frage zukünftig vermehrt einer gerichtlichen Klärung zugeführt werden.
Rz. 60
Es ist auch schlichtweg falsch, dass in der Praxis regelmäßig mit einem Zinsfuß von 5 % gerechnet wird. Das ist zwar das Bestreben der Versicherungswirtschaft und von dort wird meist unnachgiebig versucht, diesen – tatsächlich unrealistischen – Wert durchzusetzen. Das gelingt in aller Regel (leider) auch, wenngleich auch nur deshalb, weil die Vertreter der Geschädigten nicht argumentieren können und viel zu nachgiebig sind.
Rz. 61
Oft gebietet auch die Tatsache fehlender Rechtsschutzversicherung und demzufolge die wirtschaftliche Vernunft oder die Prozessökonomie, nachzugeben. Ein Zinsfuß von 5 % ist heute unangemessen hoch und daher ausnahmslos abzulehnen.
Rz. 62
Derartig unangemessen hohe Zinsfüße mögen auch noch bis vor einiger Zeit von der Rechtsprechung mitgetragen worden sein. Symptomatischer Weise wird hierzu immer wieder die Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1981 (!) zitiert, wonach "die üblichen Sätze von 5–5,5 %" zugrunde zu legen seien (BGH zfs 1981, 105; VersR 1981, 283). Selbst die Entscheidungen aus den Jahren bis 2002 (OLG Oldenburg SP 2002, 56; OLG Naumburg VersR 2002, 1295) sind demnach hinsichtlich des angewandten Zinsfußes heute überholt. Die Zeiten haben sich seitdem – unbestreitbar – massiv geändert und heute würde sicher kein Gericht mehr mit einem derartig hohen Zinsfuß rechnen.
Rz. 63
Merke
Es wird Zeit, angesichts niedrigen Zinsniveaus, steigender Inflation und sinkender Einkommen möglichst mit nicht mehr als einem Zinsfuß von 3 %, keinesfalls aber mehr als 4 % zu kapitalisieren!
Rz. 64
Der zugrunde zu legende Zinssatz, der – siehe vorstehend – von den realitätsfremden Versicherern immer noch mit mindestens 5 % kalkuliert wird, obwohl heute 2 % bei der Geldanlage schon ein Schnäppchen sind, kann heute nie mehr als 2 % lauten. Die Versicherer agieren aber immer noch nach dem Motto: Der Geschädigte kann den Zinssatz der Assekuranz akzeptieren oder es sein lassen. Dann scheitert eben die Abfindung und der Geschädigte kann so lange prozessieren, bis er "schwarz wird". Einem Versicherer ist das im Zweifel vollkommen egal. Jeder Anwalt wird das tagtäglich in der Regulierungspraxis erleben!
Rz. 65
Es kann nur davor gewarnt werden, sich auf eine solche Diskussion einzulassen. Es empfiehlt sich vielmehr, dann die Regulierungsverhandlungen abrupt und rigoros abzubrechen, d.h. aufzustehen und den Regulierungsbeauftragten höflich aber bestimmt zur Tür zu führen. Das wirkt oft sofort: Denn dann war dessen Reise und Vorbereitung...