Rz. 234

Hier ist die Rechtslage weniger kompliziert und die Neufassung des § 2306 Abs. 1 BGB hat zu einer gewissen Angleichung an die Regelung bei der Erbeinsetzung geführt. Der Pflichtteilsberechtigte hat stets die Wahl, ob er das Vermächtnis annehmen oder ausschlagen will (§ 2307 BGB). Schlägt der Pflichtteilsberechtigte das Vermächtnis aus (§ 2180 BGB), kann er immer den vollen und unbeschränkten Pflichtteil verlangen. Nimmt er das Vermächtnis an, so hat er dann, wenn der Wert des Vermächtnisses niedriger als der Pflichtteil ist, in Höhe des Differenzbetrages einen Zusatzpflichtteil (§ 2307 Abs. 1 S. 2 BGB). Allerdings bleiben bei der Wertermittlung des Vermächtnisses alle darauf lastenden Beschränkungen und Beschwerungen außer Ansatz.[428] Dies gilt nach h.M. auch für ein aufschiebend bedingtes Vermächtnis, das daher mit seinem vollen Wert vom Pflichtteilsanspruch abgezogen wird, auch wenn die Bedingung nie eintritt.[429]

 

Rz. 235

 

Beispiel

Erblasser E setzt seine Witwe W zum alleinigen Erben ein. Für den Fall, dass diese sich wiederverheiratet, wendet er den beiden gemeinsamen Kindern den Anspruch zu, dass diese das Familienwohnhaus erhalten (Wiederverheiratungsklausel mit Vermächtnislösung). Dieses Vermächtnis hat einen Wert von 300.000 EUR je Kind, der Pflichtteilsanspruch für jedes Kind würde 200.000 EUR betragen. – Es liegt ein aufschiebend bedingtes Vermächtnis vor (für den Fall der Wiederverheiratung).[430] Wenn der Wiederverheiratungsfall nie eintritt, so wird doch das angenommene (aufschiebend bedingte) Vermächtnis voll auf den Pflichtteilsanspruch angerechnet, was dazu führt, dass die Pflichtteilsberechtigten keinen Pflichtteil mehr geltend machen können.

 

Rz. 236

Für den Rechtsberater bedeutet dies, dass er die Pflichtteilsberechtigten darauf hinweisen muss. Zudem müssen die Ausschlagung des Vermächtnisses und die Geltendmachung des Pflichtteils so rechtzeitig erfolgen, dass der Pflichtteil noch nicht verjährt ist (§ 2332 Abs. 2 BGB). Auch wenn daher das Vermächtnisrecht keine Ausschlagungsfrist kennt, gebietet das Pflichtteilsrecht die Ausschlagung zur Wahrung des Pflichtteilsanspruchs.[431]

 

Rz. 237

Sind Beschränkungen und Beschwerungen des Vermächtnisses vorhanden, so ist deren Bewertung schwierig. Die tendenzielle Empfehlung geht daher hier zur Ausschlagung. Lebten Ehegatten oder eingetragene Lebenspartner im Güterstand der Zugewinngemeinschaft, ist zudem zu beachten, dass die Annahme oder Ausschlagung auch eines unbelasteten Vermächtnisses darüber entscheidet, ob der Überlebende den sog. kleinen oder großen Pflichtteil erhält; dies hat wiederum u.U. ganz erhebliche Auswirkungen auf den Pflichtteil anderer Pflichtteilsberechtigter (eingehend zur Ausschlagungsentscheidung in dieser Situation siehe § 4 Rdn 32 f.)

[428] Vgl. etwa Soergel/Dieckmann, § 2307 Rn 2.
[429] Vgl. nur Staudinger/Otte, § 2307 Rn 17 ff.; ferner OLG Oldenburg NJW 1991, 988 (hier handelte es sich aber richtigerweise um ein befristetes Vermächtnis); offen lassend BGH ZEV 2001, 20.
[430] Unrichtig das von Kerscher/Riedel/Lenz, Pflichtteilsrecht, § 6 Rn 51 für das aufschiebend bedingte Vermächtnis angeführte Beispiel eines Nießbrauchsvermächtnisses für den Fall des Todes des Vorerben.
[431] Eingehend zu diesen Problemen Strecker, ZEV 1996, 327 ff.

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