Rz. 199

Die Ur-Version des Behindertentestaments geht von der Prämisse aus, dass eine wesentliche Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse im Hinblick auf den Bezug von nachrangigen Sozialleistungen nicht eintritt. Die Fälle der Leistungsbezieher aus SGB II, BKKG und SGB VIII haben ihre Gemeinsamkeit darin, dass der sozialrechtliche Leistungsbezug in der Regel auf eine absehbare Zeit gerichtet ist. Damit ist der Wunsch groß, dem Bedürftigen den Zugriff auf den Nachlass sofort zu ermöglichen, sobald der Bezug nachrangiger Leistungen endet. Das lässt sich ohne größere Probleme mit einer zeitlich beschränkten Testamentsvollstreckung und entsprechenden Verwaltungsanordnungen regeln.

Als gestalterische Herausforderung erweisen sich aber die Gestaltungen, bei denen der Wegfall des nachrangigen Leistungsbezuges in der Zukunft nur eine Möglichkeit, aber keine gesicherte Option ist. Hier gilt es allerdings zunächst einmal den jeweiligen Leistungsbezug und dessen tatbestandliche Anforderungen sauber herauszuarbeiten, um nicht mit der zu schaffenden Bedingung in der Sackgasse zu landen.

a) Der Wegfall der Bedürftigkeitsursache oder warum werden eigentlich nachrangige Leistungen bezogen?

 

Rz. 200

Manchmal wird in der Literatur angenommen, dass die Beschränkungen des Bedürftigentestaments wegfallen könnten, wenn die unzureichende Erwerbsfähigkeit bzw. Erwerbsmöglichkeit des Betroffenen entfalle. Man könne z.B. bei Herstellung der Erwerbsfähigkeit des Betroffenen durch einen Amtsarzt den Eintritt der auflösenden Bedingung feststellen lassen. Gleichzeitig wird davon abgeraten, eine solche auflösende Bedingung zu wählen, weil mit dem Eintritt der Bedingung die bis dahin bestehende Anwartschaft zu einem Vollrecht erstarke und dem Sozialhilfeträger bereits als Haftungsmasse zur Verfügung stehe.

 

Rz. 201

Das bedarf näherer Prüfung. Wer dauerhaft voll erwerbsgemindert ist (§§ 43, 102 Abs. 2 SGB VI), ist das deshalb, weil es nach der Feststellung des Rentenversicherungsträgers unwahrscheinlich ist, dass die Minderung der Erwerbsfähigkeit noch einmal behoben werden kann; hiervon ist nach einer Gesamtdauer der Befristung von neun Jahren auszugehen. Ein dauerhaft voll Erwerbsgeminderter, der Grundsicherung nach § 41 ff. SGB XII bezieht, tut das deshalb, weil seine Erwerbsminderungsrente für seinen Lebensbedarf nicht ausreicht. Er wird also auch als Altersrentner auf diesem Niveau verharren, wenn er nicht 33 Jahre an Grundrentenzeiten nach § 76 g SGB VI mitbringt. Es ist also mehr als unwahrscheinlich, dass er noch einmal aus dem Sozialhilfebezug herausfallen wird. Er kann also als gesondert zu betrachtende Gestaltungsgruppe nicht gemeint sein.

 

Rz. 202

Wer zeitweise voll erwerbsgemindert ist (§§ 43, 102 SGB VI), ist bei unzureichender Erwerbsminderungsrente ebenfalls ein SGB XII-Fall. Aber es ist meistens mehr als fraglich, ob er sich gesundheitlich und leistungsmäßig soweit erholen wird, dass er bei Wiedererlangung seiner Leistungsfähigkeit nicht einfach nur in das SGB II fällt und dann eben als Erwerbsfähiger nachrangige Leistungen bezieht, weil er auf dem Arbeitsmarkt nicht unterkommt. Dann folgt der Notwendigkeit der Beschränkungen eines Behindertentestamentes die Notwendigkeit der Beschränkungen eines Bedürftigentestaments, ohne dass sich an der Gestaltung wesentlich etwas ändert.

Erwerbsfähig nach § 8 SGB II ist, wer nicht wegen Krankheit oder Behinderung auf absehbare Zeit außerstande ist, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein. Wer also mehr als drei Stunden arbeiten kann, bleibt ein SGB II-Fall, weil seine Erwerbsfähigkeit Leistungsvoraussetzung des nachrangigen Leistungsbezuges ist.

 

Rz. 203

Angesichts dieser Rechtslage ist es aus sozialrechtlicher Sicht ziemlich sicher, dass man ein Bedürftigentestament – das gedanklich im Regelfall von SGB II-Bezug ausgeht, nicht mit Formulierungen zur Wiedererlangung der Erwerbsfähigkeit in den Griff bekommt. Von der Benutzung sozialrechtlicher Fachbegriffe kann in diesem Zusammenhang nur dringend abgeraten werden:

Der Grad der Behinderung sagt nichts über die Frage der Erwerbsfähigkeit aus. Auch bei einem Grad der Behinderung von 100 kann ein Rollstuhlfahrer voll erwerbsfähig sein.
Der Grad der Minderung der Erwerbsfähigkeit stammt aus dem SGB VII und dem sozialen Entschädigungsrecht und ist ebenfalls kein Messinstrument für die Frage, ob jemand seinen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit verdienen kann.
Der Begriff der Berufsunfähigkeit ist eine Begrifflichkeit aus dem alten SGB VI oder auch den privaten Rentenversicherungssystemen.

Keiner der gewählten Begriffe trifft das angestrebte Ziel. Und für keinen dieser Begriffe ist der Amtsarzt der richtige Partner, um den Nachweis der geschaffenen Bedingung in der Funktion eines Schiedsgutachters zu erbringen. Es handelt sich bei allen vorstehendenden Begriffen letztlich um Rechtsbegriffe, für die die Erkrankung lediglich Anknüpfungspunkt für eine Funktionseinschränkung ist, die ihrerseits den Anspruch auf die jeweilige (nicht nachrangige) Sozialleistung begründet o...

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