Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 113
Zu den vorrangigen Überlegungen für eine gelungene Nachfolgegestaltung gehört die Frage: "Braucht man eigentlich immer ein Behindertentestament? Oder gibt es auch gelungene Alternativen?"
Nicht für jeden Menschen mit Behinderung bedarf es eines Behindertentestamentes. Dafür kann es mehrere Gründe geben, z.B.:
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Der Betroffene bezieht ausschließlich Sozialleistungen, für die ein Zufluss aus Erbfall und/oder Schenkung nicht angerechnet wird. |
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Der Betroffene hat auf erbrechtliche Begünstigungen wirksam verzichtet. |
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Der Betroffene ist wirtschaftlich vollständig selbstständig und nicht bedürftig in Bezug auf nachrangige "Sozialhilfe"-Leistungen. |
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Der Betroffene ist teilweise wirtschaftlich selbstständig und benötigt keine existentiellen bzw. keine Fachleistungen aus dem SGB XII. |
a) Leistungen ohne Anrechnung: Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM)
Rz. 114
Lebzeitige wie letztwillige Gestaltungen sollten primär nicht darauf schauen, dass ein Mensch behindert ist, sondern darauf, ob und wenn ja welche Art von Leistungen dieser Mensch bezieht. Ein klassisches Beispiel einer Nichtanrechnung von Einkommen oder Vermögen sind die Leistungen in Werkstätten für behinderte Menschen.
Ein Einkommenseinsatz wird nach § 138 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. § 111 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX nicht gefordert.
Eine Vermögensanrechnung für Werkstattleistungen scheidet nach § 140 Abs. 3 i.V.m. § 138 Abs. 1 Nr. 3 SGB IX pauschal aus.
Wenn daneben keine sonstigen nachrangigen Leistungen bezogen werden, insbesondere aus dem SGB XII, verursacht der Zufluss aus Erbfall und/oder Schenkung keinen leistungsrechtlichen Störfall und auch postmortal keine sozialhilferechtliche Erbenhaftung mehr, weil das SGB IX keine Erbenhaftung kennt. Bezieht ein Bedürftiger daneben nur noch Grundsicherung nach §§ 41 ff. SGB XII, braucht man die Erbenhaftung nicht zu fürchten. Sie ist nach § 102 Abs. 5 SGB XII ausgeschlossen.
b) Der Verzicht auf den Pflichtteil – § 2346 Abs. 2 BGB
Rz. 115
Der Erblasser, ggf. sein Ehegatte/Lebenspartner und seine pflichtteilsberechtigten Abkömmlinge haben bei der Gestaltung von Nachfolgeregelungen immer dann einen Spielraum, wenn der Abkömmling geschäfts- bzw. testierfähig ist. Der BGH hat sowohl den Verzicht auf den Pflichtteil und als auch die Ausschlagung eines Erbes durch einen sozialhilfebedürftigen Menschen mit Behinderung nicht als sittenwidrig angesehen (vgl. hierzu § 3 Rdn 433).
Rz. 116
Die Entscheidung darüber, ob ein Erbe die Erbschaft bzw. den Pflichtteil erhalten wolle, werde durch die Privatautonomie gedeckt. Grundsätzlich sei danach jeder frei in seiner Entscheidung, ob er Erbe eines anderen werden oder auf andere Art etwas aus dessen Nachlass bekommen will (vgl. Fallbeispiel 18, siehe § 3 Rdn 14).
Insbesondere, wenn der Pflichtteilsverzicht mit einer Gegenleistung verbunden ist, die ihrerseits nicht zu einer Bedarfsdeckung im nachrangigen Leistungssystem führt, bieten sich Gestaltungsalternativen an (vgl. hierzu z.B. Fallbeispiel 35, siehe § 3 Rdn 439).
Rz. 117
Denkbar wäre z.B. die Einräumung eines Wohnungsrechtes unter Einbeziehung der Regeln des SGB XII/SGB II zu den Kosten der Unterkunft (KdU – vgl. hierzu Rdn 89), um dem Betroffenen ein "besseres Dach über dem Kopf" zu schaffen. Wohnungsrechte an sich kann der Sozialhilfeträger nicht durch Überleitung an sich ziehen. Es kommt nur auf die Ausgestaltung im Einzelnen an, und dass der Betroffene die damit verbundenen regelhaften Kosten selbst tragen kann oder im Rahmen der Kosten der Unterkunft als sozialhilferechtliche Leistung erhält.
Rz. 118
Sozialhilferechtlich kann der verfassungsrechtlich geschützten negativen Erbfreiheit zunächst einmal nichts entgegengesetzt werden. Der Sozialhilfeträger darf Leistungen wegen eines zivilrechtlich wirksamen Pflichtteilsverzichts nicht einstellen und auch nicht verwehren. Dem Sozialhilfebedürftigen müssen "bereite" Mittel zur Bedarfsdeckung zur Verfügung stehen, nicht bloß theoretisch denkbare Ansprüche. Das Störfallinstrumentarium des Sozialhilferechts besteht aus § 103 SGB XII und § 26 SGB XII, nicht aber aus Leistungsverweigerung.
c) Wirtschaftlich unabhängig aus eigener Kraft
Rz. 119
Hinter der Fallgruppe der wirtschaftlich unabhängigen Menschen mit Behinderung verbergen sich diverse Fallgruppen.
Die Gleichung "behindert = Notwendigkeit eines Behindertentestaments" geht nicht auf. Selbst bei einem Grad der Behinderung von 100 ist nicht jeder Mensch mit Behinderung ein Fall für ein Behindertentestament. Er kann selbst über ausreichende eigene oder "geschonte" Mittel verfügen. Er kann z.B. erwerbstätig sein und damit seinen Bedarf voll decken.
Der Bedarf kann auch nur teilweise gedeckt werden, dann aber durch Sozialleistungen aufgestockt werden.
d) Wirtschaftlich unabhängig wegen Bedarfsdeckung durch nicht nachrangig ausgestaltete Sozialleistungen
Rz. 120
Die Gleichung "behindert = Notwendigkeit eines Behindertentestaments" geht auch in vielen anderen Konstellationen nicht ohne weiteres auf, weil aus anderen Sozialleistungssystemen ohne Regress vorrangig Leistungen erbracht werden (vgl. dazu Fallbeispiel 5 und Erläuterungen, siehe § 1 Rdn 120 ff.).
In einem ...