Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 65
Wenn für den Erben von dem Erblasser nicht befreite Vor- und Nacherbschaft angeordnet wurde, so ist der Nachlass mit einer Verfügungsbeschränkung belastet, die störende Dritte wie das Sozialamt von der Nachlasssubstanz fernhält. Der Erbe kann beispielsweise nicht über Immobilienvermögen verfügen und auch nichts verschenken. Die Nachlasssubstanz bleibt für den Nacherben erhalten. Und weil der Nacherbe nicht vom Vorerben erbt, sondern vom nicht sozialhilfebedürftigen Erblasser, wird mit diesem "ersten Schutzring" gleichzeitig die sozialhilferechtliche Erbenhaftung nach § 102 SGB XII ausgeschaltet. Die nicht befreite Vorerbschaft zeichnet sich vereinfacht gesagt dadurch aus, dass "der Vorerbe die Kuh melken, aber nicht schlachten darf." Zu weiteren Einzelheiten vgl. § 3 Rdn 260 ff.
Rz. 66
Das bedeutet aber auch, dass die Aufgabe, dem Begünstigten sozialhilfeunschädlich Leistungen, die über die Sozialhilfeleistungen hinausgehen, zukommen zu lassen, mit der Anordnung einer Vorerbschaft/Nacherbschaft noch nicht gelöst ist. Nach §§ 2111 Abs. 1 S. 1, 2133 BGB ergibt sich, dass dem Vorerben die ordnungsgemäß gezogenen Nutzungen des Nachlasses (§§ 2111, 2133, 100 BGB) zwischen dem Erbfall und dem Nacherbfall zustehen. Sie sind freies Vermögen (sozialhilferechtlich Einkommen nach § 82 SGB XII) des bedürftigen Vorerben. Diese Nutzungen sind es, um die es geht. Es geht nicht – jedenfalls nicht im klassischen Behindertentestament und nicht im Regelfall – um die Substanz des Nachlasses.
Rz. 67
Die sozialgerichtliche Rechtsprechung ignoriert diese "Feinheiten" bei der Zuordnung zu Einkommen oder Vermögen z.T. immer noch und orientiert sich bei der sozialhilferechtlichen Einkommens- und Vermögensprüfung an der "Erbschaft" als solcher und nicht an den sich daraus ergebenden Rechtsverhältnissen und Ansprüchen. Sie geht davon aus, dass man eine "Erbschaft" sozialhilferechtlich im Sinne von Einkommen oder Vermögen klassifizieren kann. Das ist allerdings nicht der Fall. Dass die Zentrierung auf den Rechtscharakter einer "Erbschaft" bei der sozialhilferechtlichen Prüfung, ob "bereite" Mittel zur Verfügung stehen, falsch gestellt ist, zeigt eine Entscheidung des LSG Bayern aus dem SGB II, in der das LSG deutlich zeigt, dass es auf die Einzelbestandteilen einer Erbschaft, die sich in einem Nachlass befinden, ankommt. Davon muss auch bei der erbrechtlichen Gestaltung des Behindertentestamentes in seiner klassischen Form ausgegangen werden.
Rz. 68
Eine Erbschaft ist nach § 1922 BGB die Gesamtheit aller Rechte und Pflichten, die vom Erblasser auf den Erben übergehen. Sie kann aus einer Vielzahl einzelner Rechtsverhältnisse bestehen. Infolgedessen kann es sich um mehrmalige Zuflüsse aus einer Erbschaft handeln, aber auch um nur einen einmaligen Zufluss, wenn nichts anderes als eine Sache im Nachlass vorhanden ist. Insoweit handelt es sich bei der Gestaltung im klassischen Behindertentestament für den Vorerben rechtlich nie um einen einmaligen Zufluss, sondern es handelt sich um eine Erbschaft, aus der fortlaufende Einkünfte in der Form von Nutzungen generiert werden.
Rz. 69
Nutzungen sind Sach- oder Rechtsfrüchte (§§ 100, 99 BGB), und dazu hat die sozialgerichtliche Rechtsprechung entschieden, dass "Früchte" sozialhilferechtlich grundsätzlich Einkommen und nicht Vermögen sind, wenn sie erstmals nach Beantragung der Sozialleistung zu einem Wertzuwachs geführt haben. Zinsen z.B. sind solche "Früchte", und sie sind sozialhilferechtlich Einkommen, auch wenn es sich bei dem verzinsten Kapital um Schonvermögen handelt. Das BSG hat dies konkretisiert:
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Für die Bewertung einer Zinsgutschrift als Einkommen ist allein entscheidend, dass das Kapital nach erstmaliger Beantragung der Sozialleistung einen Wertzuwachs erfahren hat. Ohne Bedeutung für die gebotene Unterscheidung zwischen Einkommen und Vermögen ist dagegen, ob die Mittel zu diesem Zeitpunkt zur Deckung des Lebensunterhalts tatsächlich zur Verfügung standen. |
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Es kommt sodann bei Berücksichtigung einer (Zins-)Einnahme als Einkommen in einem abschließenden Prüfungsschritt darauf an, ob zugeflossenes Einkommen als "bereites Mittel" geeignet ist, den konkreten Bedarf im jeweiligen Monat zu decken. |
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Steht der als Einkommen erlangte Wertzuwachs im Zeitpunkt des Zuflusses aus Rechtsgründen noch nicht als "bereites Mittel" bedarfsdeckend zur Verfügung, ist die Berücksichtigung als Einkommen zu diesem Zeitpunkt auch dann ausgeschlossen, wenn der Leistungsberechtigte auf die Realisierung des Wertes hinwirken kann. |
Rz. 70
Mit dieser auf Fälle des SGB XII übertragbaren Rechtsprechung des BSG zum SGB II muss man bei einem Behindertentestament in der Form der klassischen Vorerbschafts– /Nacherbschaftslösung regelhaft davon ausgehen, dass für den Vorerben während des Sozialhilfebezuges durch den Bezug von Geld auf jeden Fall Einkommen (§§ 82 ff. SGB XII) und nicht Vermögen (§ 90 SGB XII) generiert wird.
Nur dann, wenn eine einmalige Einnahme nicht vollständig verbraucht...