Dr. Gudrun Doering-Striening
a) Sittenwidrigkeit als Ausnahme
Rz. 18
Die Sittenwidrigkeit eines Testamentes ist der absolute Ausnahmefall. Die allgemeinen Regeln dazu stehen fest:
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Grundsätzlich können alle im Erbrecht vom Gesetz bereitgestellten Gestaltungsinstrumente einschließlich ihrer Kombinationsmöglichkeiten zunächst ausgeschöpft werden. |
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Eine Einschränkung der Testierfreiheit durch Anwendung des § 138 Abs. 1 BGB kommt nur in Betracht, wenn sich das Verdikt der Sittenwidrigkeit auf eine klare, deutlich umrissene Wertung des Gesetzgebers oder allgemeine Rechtsauffassung stützen kann. |
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Allein die Absicht, durch die Gestaltung des Testaments den gesamten Nachlass nur zugunsten des nicht behinderten Kindes sichern und einen Zugriff der Sozialhilfe- und übrigen Leistungsträger auf den Erbteil des behinderten Familienangehörigen verhindern zu wollen, würde hierfür nicht genügen. |
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In solchen Fällen muss die Unwirksamkeit des Rechtsgeschäfts, nicht etwa dessen Rechtfertigung konkret begründet werden. |
Rz. 19
Mit dem BGH-Urteil zum Pflichtteilsverzicht aus 2011 jubelte die Literatur deshalb, dass es endgültig Sicherheit für das Behindertentestament gebe. Und es scheint so, als werde dies durch die Entscheidung des BGH aus 2019 bestätigt:
Zitat
"Allein die … unterstellte Absicht, durch die Gestaltung des Testaments den gesamten Nachlass nur zugunsten des behinderten Sohns zu sichern und einen Zugriff der Sozialhilfe- und übrigen Leistungsträger auf die Erbteile der beiden behinderten Familienangehörigen verhindern zu wollen, würde hierfür nicht genügen."
Ob das die richtige und allgemeingültige Schlussfolgerung ist, muss aus zivilrechtlicher wie aus sozialrechtlicher Sicht bezweifelt werden. Für den konkreten Einzelfall sind eine Reihe von Gestaltungs- und Anwendungsfragen zum Behindertentestament trotz der erbrechtlich gefestigten Rechtsprechung unbeantwortet.
b) Die Größe des Nachlasses
Rz. 20
In seiner 2. Entscheidung zum Behindertentestament betonte der BGH, dass durch das Behindertentestament eine objektive Besserstellung des Kindes mit Behinderung erreicht werde, weil der Nachlass nicht so groß gewesen sei, dass dessen Versorgung lebenslang sichergestellt gewesen sei. Ob die Größe eines Nachlasses ein Kriterium für die Sittenwidrigkeit eines Behindertentestamentes sein kann, wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Die jüngste Rechtsprechung – und mit ihr wiederum ein Teil der Literatur – sieht dieses Argument als erledigt an. So vertritt das OLG Hamm zu einem aktuellen Fall, "in dem sich der Wert des Erbteils unstreitig auf über 960.000 EUR beläuft und selbst der um 1,25 % geringere Pflichtteil noch einen beträchtlichen Vermögenswert hat, der unter Zugrundelegung des derzeitigen Sozialhilfestandards voraussichtlich ausreichen wird, um eine weitere Versorgung des schwerbehinderten B bis zu seinem Lebensende sicherzustellen, wobei bei erzielbaren Vermögenserträgen von 2 % gegebenenfalls nicht einmal der Stamm des Vermögens im Wesentlichen angegriffen werden muss", dass es darauf nicht ankomme, weil in einer nachfolgenden Entscheidung des BGH "auch nicht danach differenziert worden ist, wie groß das dem behinderten Kind hinterlassene Vermögen ist."
Ob dieses "beredte" Schweigen als Argument wirklich taugt, ist fraglich, denn es gibt in den fraglichen BGH-Entscheidungen keine Hinweise auf eine vergleichbare Fallgestaltung wie diejenige, die das OLG Hamm zu entscheiden hatte.
Rz. 21
Die Entscheidung vermag aber auch an anderen Stellen nicht zu überzeugen, weil sie die sozialhilferechtlichen Konsequenzen einer Ausschlagung nicht im Blick hat. Sie zieht zwar das Ausschlagungsrecht des bedürftigen Erben als Argumentation dafür heran, dass das fragliche Behindertentestament "hält", bedenkt aber die sozialhilfe- und eingliederungshilferechtlichen Konsequenzen der Ausschlagung nicht bis zum Ende. Würde ein bedürftiger Sozialhilfebezieher das Erbe nämlich ausgeschlagen, dann wäre ihm in dem konkreten Fall durch die Ausschlagung gemäß § 2306 ein Pflichtteil von nahezu einer Million Euro zugefallen. Diesen Pflichtteil hätte er aber nicht einfach für sich verbrauchen oder ansparen können. Im Sozialhilferecht des SGB XII (also für Leistungen der Grundsicherung, der Kranken- und Pflegeversicherung, der Hilfe zur Pflege etc.) handelt es sich um einsatzpflichtiges eigenes Einkommen (§§ 82 ff. SGB XII) bzw. später – nach Ablauf des Verteilzeitraums – um eigenes Vermögen des Bedürftigen (§§ 82 Abs. 7, 90 SGB XII), das er bis auf einen Schonbetrag hätte einsetzen können und müssen. Im Eingliederungshilferecht des SGB IX wäre der Pflichtteilsanspruch kein Einkommen (§ 135 SGB IX), aber Vermögen im Sinne der §§ 139 f. S...