Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 227
Was aber passiert, wenn der Testamentsvollstrecker fälschlicherweise (anordnungswidrig oder sogar anordnungsgemäß) bedarfsdeckungsgeeignete Mittel unmittelbar an den bedürftigen Vorerben auskehrt?
Fallbeispiel 94: Die behinderte Erbin und die Auszahlung des Taschengeldes
Die Hilfeempfängerin H war aufgrund ihrer geistigen Behinderung in einer Einrichtung der Behindertenhilfe (heute "besondere Wohnform") untergebracht. Es bestand ein Behindertentestament zu ihren Gunsten im Sinne der klassischen Erbschaftslösung. Die klassischen Verwaltungsanordnungen waren vorhanden, wonach der Erbin auch Zuwendungen für die Ausstattung ihres Zimmers und die Durchführung von Urlauben zur Verfügung gestellt werden sollten.
Auf Anforderung der Betreuerin der H überwies der Testamentsvollstrecker auf ein Konto der H aus dem Nachlass der Großmutter einen Betrag von 1.800 EUR mit dem Verwendungszweck "Taschengeld 04–09/05" und einen weiteren Betrag von 5.000 EUR mit dem Verwendungszweck "Erbschaft". Sie – so die Betreuerin – würden für eine neue Einrichtung des Zimmers der H nach ihrem Umzug im Haus sowie für die Teilnahme an Freizeiten 300 EUR monatlich an Taschengeld benötigen. Tatsächlich wurde die Zimmereinrichtung nicht angeschafft und die Freizeit fiel aus.
Der Sozialhilfeträger verlangt den Einsatz der Mittel.
Rz. 228
Ein Erbe hat Anspruch auf ordnungsmäßige Verwaltung der Erbschaftsmittel (§ 2216 BGB) durch den Testamentsvollstrecker. Die Ordnungsmäßigkeit der Verwaltung orientiert sich an den Verwaltungsanordnungen des Erblassers, die der Testamentsvollstrecker als bindende Richtlinie seiner Amtsführung auch gegen den erkennbaren Willen des Erben zu beachten hat. Der Erbe kann den Testamentsvollstrecker insoweit auf Freigabe der Nutzungen im Wege der Leistungsklage in Anspruch nehmen.
Die Freigabe von Mitteln zur Deckung des existentiellen Lebensbedarfs (Grundsicherung/Hilfe zum Lebensunterhalt) widerspricht dem Sinn und Zweck eines klassischen Bedürftigentestaments. Sie stellt einen Verstoß des Testamentsvollstreckers gegen den Willen des Erblassers dar. Das kann man mit Verwaltungsanordnungen ohne weiteres feststellen, als auch ohne Verwaltungsanordnungen durch bloße Auslegung.
Rz. 229
Falllösung Fallbeispiel 94:
Andererseits ist jeder Zufluss von Mitteln während des Bedarfszeitraums nach §§ 82 ff. SGB XII Einkommen, das der Bedürftige einsetzen muss. Auf den Rechtsgrund des Zuflusses kommt es nicht an. Das LSG Hessen entschied deshalb im Sinne der sozialhilferechtlichen Normen für diesen Fall:
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"Solange sich der Nachlass noch in der Verwaltung des Testamentsvollstreckers befindet, ist er dem Zugriff der Klägerin, also auch des Sozialhilfeträgers entzogen." |
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Mit der Überweisung von Geldbeträgen auf ein Taschengeldkonto des kranken Erben, sind diese im Sinne von § 2217 I 2 BGB überlassen, so dass das Recht des Testamentsvollstreckers zur Verwaltung dieses Geldes und das Zugriffsverbot für die Privatgläubiger der Klägerin endet. |
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Die Freigabe ist ein einseitiges, abstraktes, dingliches Rechtsgeschäft, das durch empfangsbedürftige, auch konkludente Willenserklärung zustande kommt und den Verzicht auf das Verwaltungs- und Verfügungsrecht des Testamentsvollstreckers hinsichtlich des betreffenden Gegenstandes enthält. Eine solche Freigabe liegt hier mit den beiden Überweisungen mit den Verwendungszwecken "Taschengeld" und "Erbschaft" vor. |
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Darauf, ob der Testamentsvollstrecker bei der Freigabe im Rahmen ordnungsgemäßer Verwaltung handelt oder nicht, kommt es für die Wirkung der Freigabe nicht an.“ |
Auf der gleichen Linie liegt die Entscheidung einer Disziplinarkammer des VG Berlin.
Rz. 230
Anders als in dieser Entscheidung angenommen, gibt es im SGB XII – wie im SGB II – allerdings grundsätzlich keinen Schutz durch privat ausgesprochene Zweckbindung, soweit dies nicht ausdrücklich normativ bestimmt ist. Dafür hat der Gesetzgeber die §§ 83, 84 SGB XII geschaffen, die aber nicht anwendbar sind.
Die freigegebenen Mittel sind daher Einkommen und einsatzpflichtig.
Entgegen den Äußerungen in der erbrechtlichen Literatur und Rechtsprechung ändert sich das Ergebnis auch nicht dadurch, dass der Erbe den Betrag wieder in die Verwaltung des Testamentsvollstreckers zurückgibt, auf ein entsprechendes Verlangen des Testamentsvollstreckers reagiert oder Schadensersatzansprüche generiert. Schuldentilgung bzw. das Erfüllen von Verbindlichkeiten ist im SGB XII kein zu berücksichtigender Abzugsposten und jeder Zufluss, der nicht "normativ" geschützt ist, ist Einkommen, wegen dessen das Sozialamt unbeanstandet Leistungen verweigern oder falsche Entscheidungen aufheben kann.
Rz. 231
Fazit und Gestaltungshinweis
Vom Testamentsvollstrecker freigegebene Mittel in Geld oder zur Bedarfsdeckung geeigneten Geldeswert stellen bedarfsdeckungsgeeignete "bereite" Mittel im Sinne des Sozialhilferechts dar. Das ist unabhängig davon, dass der Testamentsvollstrecker ggf. Rückzahlung verlangen kann oder Schadensersatz wegen fe...