Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 20
In seiner 2. Entscheidung zum Behindertentestament betonte der BGH, dass durch das Behindertentestament eine objektive Besserstellung des Kindes mit Behinderung erreicht werde, weil der Nachlass nicht so groß gewesen sei, dass dessen Versorgung lebenslang sichergestellt gewesen sei. Ob die Größe eines Nachlasses ein Kriterium für die Sittenwidrigkeit eines Behindertentestamentes sein kann, wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Die jüngste Rechtsprechung – und mit ihr wiederum ein Teil der Literatur – sieht dieses Argument als erledigt an. So vertritt das OLG Hamm zu einem aktuellen Fall, "in dem sich der Wert des Erbteils unstreitig auf über 960.000 EUR beläuft und selbst der um 1,25 % geringere Pflichtteil noch einen beträchtlichen Vermögenswert hat, der unter Zugrundelegung des derzeitigen Sozialhilfestandards voraussichtlich ausreichen wird, um eine weitere Versorgung des schwerbehinderten B bis zu seinem Lebensende sicherzustellen, wobei bei erzielbaren Vermögenserträgen von 2 % gegebenenfalls nicht einmal der Stamm des Vermögens im Wesentlichen angegriffen werden muss", dass es darauf nicht ankomme, weil in einer nachfolgenden Entscheidung des BGH "auch nicht danach differenziert worden ist, wie groß das dem behinderten Kind hinterlassene Vermögen ist."
Ob dieses "beredte" Schweigen als Argument wirklich taugt, ist fraglich, denn es gibt in den fraglichen BGH-Entscheidungen keine Hinweise auf eine vergleichbare Fallgestaltung wie diejenige, die das OLG Hamm zu entscheiden hatte.
Rz. 21
Die Entscheidung vermag aber auch an anderen Stellen nicht zu überzeugen, weil sie die sozialhilferechtlichen Konsequenzen einer Ausschlagung nicht im Blick hat. Sie zieht zwar das Ausschlagungsrecht des bedürftigen Erben als Argumentation dafür heran, dass das fragliche Behindertentestament "hält", bedenkt aber die sozialhilfe- und eingliederungshilferechtlichen Konsequenzen der Ausschlagung nicht bis zum Ende. Würde ein bedürftiger Sozialhilfebezieher das Erbe nämlich ausgeschlagen, dann wäre ihm in dem konkreten Fall durch die Ausschlagung gemäß § 2306 ein Pflichtteil von nahezu einer Million Euro zugefallen. Diesen Pflichtteil hätte er aber nicht einfach für sich verbrauchen oder ansparen können. Im Sozialhilferecht des SGB XII (also für Leistungen der Grundsicherung, der Kranken- und Pflegeversicherung, der Hilfe zur Pflege etc.) handelt es sich um einsatzpflichtiges eigenes Einkommen (§§ 82 ff. SGB XII) bzw. später – nach Ablauf des Verteilzeitraums – um eigenes Vermögen des Bedürftigen (§§ 82 Abs. 7, 90 SGB XII), das er bis auf einen Schonbetrag hätte einsetzen können und müssen. Im Eingliederungshilferecht des SGB IX wäre der Pflichtteilsanspruch kein Einkommen (§ 135 SGB IX), aber Vermögen im Sinne der §§ 139 f. SGB IX. Für Werkstattleistungen gibt es zwar keine Verpflichtung Vermögen einzusetzen (§§ 140 Abs. 3, 138 Abs. 1 Nr 3 SGB IX). Für andere Eingliederungshilfemaßnahmen gilt diese Freistellung aber nicht. Bei Ausschlagung wäre aus dem Pflichtteil, der nach § 2306 BGB in einer solchen Situation entstanden wäre, eine Einsatzpflicht nicht zu vermeiden gewesen, weil der Vermögensschonbetrag nach § 139 SGB IX um ein Vielfaches überschritten war.
Rz. 22
Man muss den fraglichen Sachverhalt auch einmal insgesamt innerhalb der sozialhilferechtlichen Grenzen für den Einsatz derart hoher monatlicher Kapitalerträge weiterdenken. 2 % Zinsen aus 960.000 EUR führen zu monatlichen Kapitalerträgen von 1.600 EUR, die dem Kind in einer stationären Einrichtung (besonderen Wohnform) nach dem Willen des Erblassers – gesteuert durch den Testamentsvollstrecker – sozialhilfeunschädlich monatlich zufließen sollen. In der Form von Bargeld ist das im Sozialhilferecht des SGB XII nicht möglich, weil Kapitalerträge Einkommen nach § 82 Abs. 1 SGB XII sind. Eine Ausnahme gäbe es nur, wenn das Einkommen – mit der Formulierung des BSG – "normativ geschützt" wäre. Solche normativen Verschonungstatbestände sind aber im SGB XII nicht erkennbar, abgesehen von der vom BSG entwickelten, bisher nicht weiter ausgetesteten Härteklausel des § 82 Abs. 3 S. 3 SGB XII. Sie greift hier m.E. nach aber nicht. Das wäre nämlich der Beginn, über den Wortlaut des SGB XII hinaus das gesamte System der Subsidiarität zu sprengen. Also muss der Testamentsvollstrecker in Bezug auf die Leistungen des SGB XII Sachzuwendungen finden, die einerseits nicht bedarfsdeckend sind und andererseits auch keinen "Geldeswert" im Sinne von § 82 Abs. 1 SGB XII darstellen. Das dürfte auf Dauer eher schwierig sein.
In Bezug auf Eingliederungshilfeleistungen für das bedürftigen "Kind" sind Zinserträge Einkünfte i.S.d. § 2 Abs. 2, Abs. 1 Nr. 5 EStG und damit Einkommen. Dieses Einkommen überschreitet zwar nicht die Beitragsgrenze aus § 135 SGB IX, mutiert aber zu Vermögen (§ 139 SGB), wenn es angespart wird. Dann unterliegt es den Vermögenseinsatzregeln der §§ 139 f. SGB IX.
Ob sich angesichts des mittlerweile umfangreichen Leistungskata...