Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 171
Kein Testament trifft am Todestag gesichert auf den Sachverhalt, den der Erblasser vor Augen hatte. Das größte Risiko eines Behindertentestamentes ist, dass am Ende kein oder nur ein geringer Nachlass da ist. Das kann höchst unterschiedliche Ursachen und unterschiedliche Rechtsfolgen haben.
Rz. 172
Um einen Pflichtteilsrestanspruch (§ 2305 BGB) zu vermeiden, ist es notwendig, dem behinderten Erben eine Erbquote zuzuwenden, die über seinem Pflichtteilsanspruch liegt. Die Faktoren, die zu einer Änderung der Pflichtteilsquote führen, müssen im Blick behalten werden:
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Eine Erbquotenveränderung kann z.B. unter Ehegatten dadurch eintreten, dass Ehegatten ihren Güterstand ändern. Der Wechsel von der Zugewinngemeinschaft in die Gütertrennung verändert die Erbquote. Statt zu ½ erbt der Ehegatte neben ein oder zwei Kindern des Erblassers zu gleichen Teilen, ansonsten nur zu ¼. Die Quote der Kinder im Güterstand der Gütertrennung kann also größer werden und damit auch der Pflichtteilsanspruch. (§ 1931 Abs. 4 BGB) |
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Die Unwirksamkeit des Testaments tritt für den Fall der Auflösung der Ehe ein. Dem steht gleich, wenn der Erblasser die Scheidung beantragt oder ihr zugestimmt hat und die Voraussetzungen für die Scheidung gegeben waren. (§ 2077 BGB) Die Verfügung ist ausnahmsweise nur dann nicht unwirksam, wenn anzunehmen ist, dass der Erblasser sie auch für diesen Fall getroffen haben würde. Das nach Wegfall der letztwilligen Verfügung an die Stelle tretende gesetzliche Erbrecht wird durch die gleichlautende Vorschrift des § 1933 BGB beseitigt. Damit tritt eine Veränderung der gesetzlichen Erbquoten ein. Die ursprünglich ausreichende Erbquote wird zu gering, um attraktiv zu sein. Der Pflichtteilsrestanspruch wird aktiviert und ist sozialhilferelevant. |
Rz. 173
Insgesamt ist der Ermittlung der Erbquoten Aufmerksamkeit zu widmen.
Fehlt in gemeinschaftlichen Testamenten z.B. eine Regelung für den Fall des gleichzeitigen Versterbens in dem Sinne, dass die auf das Ableben des letztversterbenden Ehegatten getroffenen Verfügungen sinngemäß als letztwillige Verfügung eines jeden Ehepartners gelten, so kann dies Probleme bereiten. Gemeint sind die Fälle, wie sie z.B. durch die Tsunami-Katastrophe eingetreten sind. § 11 Verschollenheitsgesetz regelt: "Kann nicht bewiesen werden, dass von mehreren gestorbenen oder für tot erklärten Menschen der eine den anderen überlebt hat, so wird vermutet, dass sie gleichzeitig gestorben sind."
Ist dieser Fall des gleichzeitigen Versterbens bei Ehegatten nicht geregelt, lassen sich die gewollten Erbquoten nach dem Erst- und Letztversterbenden nicht ermitteln und es kann zu überleitbaren (Rest)-ansprüchen (§ 2305 BGB) kommen.
Fazit
Veränderungen der Erbsituation müssen so weit als möglich vorsorgend erfasst werden und auf Kontroll- und Anpassungsbedarf – z.B. im Fall von Güterstandswechseln – muss hingewiesen werden. Man kann formulieren: "… setze ich zu 55 % bezogen auf den rechnerischen gesetzlichen Erbteil ein …, das ist derzeit …." Damit "wächst" der Anspruch des Begünstigten situationsabhängig mit.
Rz. 174
Ein vergleichbares Problem kann sich auch stellen, wenn es statt zur vorgesehenen Erbschaft zur Ausschlagung kommt.
Fallbeispiel 89: Die nicht vorhergesehene Ausschlagung
V und M leben im Güterstand der Zugewinngemeinschaft. Sie haben zwei Kinder. Sie setzen sich in einem gemeinschaftlichen Testament zu 5/6 wechselseitig zu Erben ein und das heimpflegebedürftige Kind K 1 zu 1/6. K 2 ist Nacherbe. M schlägt nach dem Tod von V aus, weil das Vermögen des V aus Zugewinn stammt = 100.000 EUR, da sie keine Erbauseinandersetzung führen und ihre Testierfreiheit wiedererlangen will. Sie macht den kleinen Pflichtteil und konkreten Zugewinn geltend.
Rz. 175
§ 1371 BGB regelt familienrechtlich den Zugewinnausgleich im Todesfall:
Wird der überlebende Ehegatte nicht Erbe und steht ihm auch kein Vermächtnis zu, so kann er Ausgleich des Zugewinns nach den Vorschriften der §§ 1373–1383, 1390 BGB verlangen; der Pflichtteil des überlebenden Ehegatten oder eines anderen Pflichtteilsberechtigten bestimmt sich in diesem Falle nach dem nicht erhöhten gesetzlichen Erbteil des Ehegatten.
Schlägt der überlebende Ehegatte die Erbschaft aus, so kann er neben dem Ausgleich des Zugewinns den Pflichtteil auch dann verlangen, wenn dieser ihm nach den erbrechtlichen Bestimmungen nicht zustünde; dies gilt nicht, wenn er durch Vertrag mit seinem Ehegatten auf sein gesetzliches Erbrecht oder sein Pflichtteilsrecht verzichtet hat.
Rz. 176
Falllösung Fallbeispiel 89:
Der Zugewinnanspruch (§ 1378 BGB) beläuft sich im Beispiel auf 50.000 EUR, der kleine Pflichtteil auf ¼ von 50.000 EUR = 12.500 EUR= gesamt 62.500 EUR.
Ohne Ausschlagung wäre die Ehefrau mit allen Konsequenzen gewillkürte Miterbin geworden (§§ 1922 Abs. 2, 2265 ff. BGB). Das hätte zu einer Nachlassbeteiligung von 83.333,33 EUR geführt; aber es hätte sie in die Bindung an das gemeinschaftliche Testament gebracht.
Die Ausschlagung führt dazu, dass die Pflichtteilsquot...