Rz. 97

Eine reduzierte Zwischenvariante stellt die "reine Testamentsvollstreckungslösung" dar, bei der auf die Anordnung einer Vorerbschaft/Nacherbschaft verzichtet wird. Der Erbe wird nicht auf die Nutzungen des Nachlasses reduziert, sondern darf den Nachlass unter dem Schutz des Dauertestamentsvollstreckers "verzehren". Manche klassischen Behindertentestamente nähern sich dieser Form an, indem dem Testamentsvollstrecker im Rahmen der Verwaltungsanordnungen des § 2216 Abs. 2 BGB erlaubt wird, auch die Substanz des Nachlasses zu verbrauchen, wenn die Erträgnisse nicht ausreichen, um die Ziele des Behindertentestamentes zu erreichen.

 

Rz. 98

 

Fallbeispiel 85: Die behinderte Erbin und die Testamentsvollstreckungslösung

Die Hilfeempfängerin H war aufgrund ihrer geistigen Behinderung – nach damaliger Terminologie – vollstationär in einer Einrichtung untergebracht. Sie war testamentarisch als Alleinerbin ihrer Großmutter mit einem Hausgrundstück im Wert von 125.000 EUR und rund 21.000 EUR Barvermögen eingesetzt. Die Großmutter hatte Testamentsvollstreckung mit Verwaltungsanordnungen bis zum Tode ihrer behinderten Enkelin angeordnet. Danach durfte der Testamentsvollstrecker nur diejenigen Zuwendungen erbringen, die der Enkelin unmittelbar zugutekommen und nicht zur Kürzung oder Versagung von Sozialhilfeleistungen führen.

Der Sozialhilfeträger verlangte den Einsatz der Mittel, weil keine Vorerbschaft/Nacherbschaft angeordnet sei.

 

Rz. 99

Die Rechtsprechung war im Jahr 2006 im "Großmutterfall" davon ausgegangen, dass die Testamentsvollstreckung den Nachlass "sozialhilfefest" mache.

Ein Hilfesuchender, der Eingliederungshilfe in Form der Übernahme der Kosten einer vollstationären Unterbringung begehre (damals noch und bis 31.12.2019 nach §§ 53 ff. SGB XII), dürfe unter dem Gesichtspunkt des Nachrangs der Sozialhilfe nicht darauf verwiesen werden, einen ihm von seiner Großmutter vererbten Nachlass als Vermögen zu verwerten, wenn die Erblasserin wirksam Testamentsvollstreckung für die Dauer des Lebens der Erben angeordnet und eine sozialhilfeunschädliche Verwendung des Nachlasses zur Auflage gemacht hat, die eine Verwendung des Erbes zur Deckung der Heimkosten ausschließt. Ein Herausgabeanspruch gegen den Testamentsvollstrecker bestehe nicht. Die Auflage, der Nachlass dürfe gemäß den Auflagen der Erblasserin nur sozialhilfeunschädlich verwendet werden, setze nicht voraus, dass die positiv bestimmten Verwendungszwecke abschließend sämtliche Bedürfnisse der Klägerin abdeckten, die außerhalb des Leistungsempfängers der Sozialhilfe entstehen. Die Verwendungsanordnung sei auch nicht wegen Verstoßes gegen § 138 BGB nichtig. Die Gründe, die zu der testamentarischen Anordnung geführt hätten, seien sittlich nicht zu missbilligen, auch wenn sie den durch den Sozialhilfeträger vertretenen Interessen der Allgemeinheit zuwiderliefen.[152]

 

Rz. 100

Die Entscheidung ist damals überall mit großer Zustimmung aufgenommen worden. In der Literatur wurde sie zunächst aber auch kritisch bewertet.[153] Heute gilt sie als dogmatisch valide.[154]

Heute könnte die Entscheidung aber so nicht mehr ergehen, weil die Prämisse der Entscheidung, dass der Nachlass Vermögen ist und der Einsatz dieses Vermögens wegen einer Härte nach § 90 Abs. 3 SGB XII nicht verlangt werden dürfe, gleich in mehrfacher Hinsicht so nicht mehr gilt.

 

Rz. 101

Falllösung Fallbeispiel 85:

Die behinderte Enkelin benötigt

existentielle Hilfe (Grundsicherung §§ 41 ff. SGB XII/Hilfe zum Lebensunterhalt §§ 27 ff. SGB XII)
Hilfe zur Teilhabe: Eingliederungshilfe (§§ 90 ff. SGB IX).

Das bedeutet, dass man zwei Einkommens- und Vermögenstatbestandsprüfungen vornehmen muss: einmal nach §§ 82 ff., 90 SGB XII und einmal für die Maßnahmen der Eingliederungshilfe die §§ 135 ff., 139 ff. SGB IX.

Ein Anspruch nach dem SGB XII besteht nicht, sofern die Klägerin durch eigenes Einkommen oder eigenes Vermögen im Sinne des SGB XII ihren Bedarf decken könnte. Nach der Rechtsprechung des BSG zum SGB XII führt der Erwerb der Erbenstellung im Bedarfszeitraum zu Einkommen. Vermögen wäre die "Erbschaft" nur dann,

wenn sie vor dem Bedarfszeitraum angefallen wäre oder
wenn nach Verteilung auf den Verteilzeitraum (§ 82 Abs. 7 SGB XII) Einkommen zu Vermögen geworden wäre.

Aufgrund der Dauertestamentsvollstreckung kann die Erbin vom Testamentsvollstrecker die Nachlasssubstanz nicht herausverlangen. Bei Dauertestamentsvollstreckung kommt eine Freigabe von Nachlassgegenständen nach § 2217 BGB im Regelfall nicht in Betracht.[155] Nachlassnutzungen unterfallen ohnehin nicht § 2217 BGB, sondern können nur nach Maßgabe der Verwaltungsanordnungen des Testamentsvollstreckers bzw. einer ordnungsgemäßen Verwaltung[156] herausverlangt werden.[157]

 

Rz. 102

Eine ordnungsgemäße Verwaltung bestünde nach den Vorgaben der Großmutter in Fallbeispiel 85 nur dann, wenn der Testamentsvollstrecker der H Mittel ohne Anrechnung auf Sozialhilfeansprüche erbringen könnte. Gibt der Testamentsvollstrecker Geld oder Geldeswerte aus den Nutzung...

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