Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 120
Die Gleichung "behindert = Notwendigkeit eines Behindertentestaments" geht auch in vielen anderen Konstellationen nicht ohne weiteres auf, weil aus anderen Sozialleistungssystemen ohne Regress vorrangig Leistungen erbracht werden (vgl. dazu Fallbeispiel 5 und Erläuterungen, siehe § 1 Rdn 120 ff.).
In einem solchen Fall aus dem sozialen Entschädigungsrecht ist absehbar, dass der Betroffene auch in der Zukunft nicht sozialhilfebedürftig werden wird. Bei einer stationären Unterbringung, die schädigungsbedingt ist, greift die Pflegezulage nach § 35 BVG. (Anmerkung: Für anderweitige stationäre Pflegleistungen greift ggf. die Kriegsopferfürsorge nach § 26 c BVG, die einkommensabhängig ist.)
Rz. 121
Vergleichbare Konstellationen gibt es in der echten Unfallversicherung für Wege- und Arbeitsunfälle bzw. Berufserkrankungen und in der unechten Unfallversicherung z.B. für Nothelfer (§ 2 SGB VII). Auch hier gibt es bei "Hilflosigkeit" infolge eines Versicherungsfalles bedarfsdeckende Leistungen ohne Einkommens-/Vermögensanrechnung nach § 44 SGB VII.
Die Begrenzungen eines klassischen Behindertentestamentes werden bei solchen Fällen nicht im Fokus der Gestaltung stehen müssen. Das zeigt Fallbeispiel 5 (siehe § 1 Rdn 120) exemplarisch. Die Schwester, die in diesem Fall die Pflege ihres Bruders lebenslang übernimmt, erbringt eine weit überobligatorische Lebensarbeitsleistung. Ihre Leistung ist für den Bruder existentiell. Man könnte deshalb in einem solchen Fall m.E. vorrangig darüber nachdenken, ob man in einem solchen Fall nicht sogar die betreuungsgerichtliche Genehmigung für einen Pflichtteilsverzicht zugunsten der Schwester erreichen könnte.
Rz. 122
Im Mittelpunkt der Diskussion um die Zeit nach dem Ableben der Eltern sollten daher m.E. nach nicht automatisch Überlegungen zu einem Behindertentestament stehen, sondern es sollte nach Lösungen für die konkrete Lebenssituation der Familie gesucht werden, die letztwillige Verfügungen ebenso einbeziehen wie Maßnahmen der vorweggenommenen Erbfolge und andere Gestaltungsmöglichkeiten. Im Fallbeispiel 5 (siehe § 1 Rdn 120) gibt es dazu interessante Optionen. Pflege kann nämlich als eine von einem Sozialleistungsträger finanzierte Dienstleistung (§ 35 Abs. 2 BVG, § 44 SGB VII) bei der Schwester "eingekauft" werden. Das Bundessozialgericht hat eine familiäre Pflicht zur kostenlosen Pflege verneint. Das für die Gewährung einer Pflegezulage nach § 35 BVG erforderliche Angewiesensein auf fremde Hilfe sei für alle Beschädigten unabhängig von ihrem Familienstand zu beurteilen. Deshalb ist es möglich, dass der betroffene Sohn unabhängig von lebzeitigen oder letztwilligen Zuwendungen an seine Schwester einen regulären Pflegedienstvertrag mit dieser abschließt und diese darüber ihre soziale Absicherung wie eine angestellte Pflegekraft erhält.