Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 154
Die vorstehend erörterten Quoten bilden für pflichtteilsberechtigte Bedürftige das Fundament, auf dem das Behindertentestament errichtet wird. Auf der ersten Stufe der Gestaltung kommt es darauf an, unbedingt Pflichtteilsansprüche des Bedürftigen zu vermeiden. Hier befindet sich die erste Schnittstelle zum Sozialhilferecht. Solche Ansprüche können vom Sozialhilfeträger nach § 93 SGB XII übergeleitet werden.
Hinweis
In allen nachrangigen Leistungssystemen, die einen Rechtsträgerwechsel vorsehen – z.B. auch durch cessio legis nach § 33 SGB II – kann der Pflichtteilsanspruch auf den "Sozialhilfe"-träger übergehen, wenn der Anspruch einsatzpflichtig ist. Im SGB IX ist er allerdings kein Einkommen, aber Vermögen und deshalb erst oberhalb des hohen Schonvermögensbetrages von § 139 S. 1 SGB IX einsatzpflichtig.
(1) Enterbung und die Absicherung des Ehegatten/Lebenspartners
Rz. 155
Zwischen Ehe- und Lebenspartnern ist das vorrangige Ziel einer letztwilligen Verfügung häufig, den anderen Ehegatten auf den Tod des Erstversterbenden abzusichern und die Abkömmlinge zunächst durch Enterbung vom Nachlass fernzuhalten.
Das ist bei Behindertentestamenten kontraindiziert. Als Fehler beim Testament in Familien mit pflichtteilsberechtigten und sozialhilfebedürftigen Erben werden – vereinfacht gesagt – all diejenigen Fälle gesehen, bei denen Pflichtteilsansprüche durch den Erblasser produziert werden; vgl. Fallbeispiel 49 (§ 3 Rdn 635), Fallbeispiel 66 (§ 5 Rdn 154) und Fallbeispiel 78 (§ 9 Rdn 5).
Der Testator muss immer bedenken, dass Abkömmlinge, Ehegatten und Eltern, falls der Erblasser sie – wissentlich oder unwissentlich – von einer gesetzlich bestimmten Mindestteilhabe am Nachlass ausschließt, einen Pflichtteilsanspruch haben können. Das gesetzliche Pflichtteilsrecht ist nach mehrfacher Entscheidung des BVerfG grundsätzlich mit der Testierfreiheit vereinbar. Der Entzug ist nur ausnahmsweise nach § 2333 BGB zulässig. Ausnahmen vom Pflichtteil ergeben sich aus:
Rz. 156
Pflichtteilsansprüche gibt es in der Form der Pflichtteils-, Pflichtteilsrest- und Pflichtteilsergänzungsansprüche.
Ist ein Abkömmling durch Verfügung von Todes wegen von der gesetzlichen Erbfolge ausgeschlossen, so besteht sein Pflichtteil in der Hälfte des Wertes des gesetzlichen Erbteils (§ 2303 Abs. 1 S. 2 BGB).
Rz. 157
Erblasser, die versuchen, unterhalb der Grenze der Mindestteilhabe zu testieren, produzieren Pflichtteilsrestansprüche nach § 2305 BGB oder nach § 2307 BGB bei Vermächtnissen. Diese sind in der Sozialhilfe und ggf. auch in anderen nachrangigen Leistungssystemen anrechenbar.
Erblasser, die versuchen, lebzeitig ihren Nachlass zu vermindern, produzieren im Rahmen der §§ 2325 ff. SGB XII ggf. Pflichtteilsergänzungsansprüche. Das kann unbegrenzt lange der Fall sein, wenn die Zehn-Jahresfrist des § 2325 Abs. 3 S. 2 BGB nicht anläuft. Fallgruppen ergeben sich aus der Vereinbarung von Wohnungsrechts-/Nießbrauchs- und Rückforderungsvorbehalten. Pflichtteilsergänzungsansprüche sind sozialhilferelevant.
Rz. 158
Pflichtteilsansprüche kollidieren mit dem Erfordernis eine Gestaltungsform zu finden, die kein einsatzpflichtiges Einkommen (§§ 82 ff. SGB XII oder Vermögen (§ 90 SGB XII/§ 139 SGB IX) schafft. Der BGH hat die Fallkonstellation der Enterbung eines pflichtteilsberechtigten Kindes auf den ersten Erbfall – verstärkt mit einer Pflichtteilsstrafklausel – nur durch eine gewagte Argumentation auf den 2. Erbfall retten können. Die Klausel sei so auszulegen, dass das Kind, dessen Pflichtteil vom Sozialhilfeträger eingezogen wird, dennoch Erbe beim Schlusserbfall werden könne. Die Pflichtteilsstrafklausel in einem Testament ist deshalb kein geeignetes Mittel zur Erreichung des Ziels eines Behindertentestaments.
Hinweis
Das OLG Karlsruhe hat bestätigt, dass die Geltendmachung des Pflichtteilsanspruches durch den Sozialhilfeträger auf den ersten Erbfall grundsätzlich ohne einschränkende Auslegung zum Eingreifen der Pflichtteilsstrafklausel auf den 2. Todesfall führt.
Rz. 159
Nur im Einzelfall soll die Enterbung doch eine denkbare Gestaltungsalternative sein, und zwar in den Fällen eines kleinen Familienvermögens oder den sog. Diskrepanzfällen beim unterschiedlichen Ehegattenvermögen. Dort, wo die Höhe des Pflichtteilsanspruchs die Schonvermögensgrenze nicht oder nicht wesentlich übersteigt und der mit allen anderen denkbaren Gestaltungsmodellen verbundene Abwicklungsaufwand in keinem rechten Verhältnis zum Ergebnis steht, soll die Enterbungslösung in Betracht kommen. Schwerwiegende Nachteile für das Familienvermögen seien nicht zu befürchten.
Rz. 160
Auch aus sozialhilferechtlicher Sicht ist dies im Einzelfall ein interessanter Gedanke. Wenn der Pflichtteilsanspruch in einem Leistungssystem aber Einkommen ist, dann gelten für ihn die Einkommenberechnungsregeln, die vorstehend immer wieder dargestellt wurden. Je nach sozialrechtlich erbrachter Leistungsart und Grad der Behinderung kann Einkommen anrechnungsfrei oder der Pflichtteilsanspruch gar kein Einkommen darstellen. Dann gelten andere An...