Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 31
Bisher fehlt auch eine differenzierte Auseinandersetzung mit letztwilligen Verfügungen, bei denen dem "Kind" mit Behinderung "unter dem Strich" nichts zugutekommt bzw. kommen kann.
Der BGH hat trotz der vorstehend zitierten Entscheidung des XII. Senats des BGH seine zwei grundlegenden Argumentationselemente gegen eine Sittenwidrigkeit von Behindertentestamenten bisher nicht aufgegeben:
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Das "Kind" mit Behinderung gelangt durch die getroffenen Regelungen auf Dauer sowohl in den Genuss der Sozialhilfeleistungen als auch zusätzlicher Vorteile, die als Schonvermögen nicht dem Zugriff des Sozialhilfeträgers unterliegen. |
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Statt der grundsätzlich möglichen Enterbung des Kindes ist eine (lebenslang?) günstigere Stellung gegeben als sie dem "Kind" mit Behinderung durch das Pflichtteilsrecht gewährleistet wird, deshalb soll ein Behindertentestament nicht sittenwidrig sein, "sondern vielmehr Ausdruck der sittlich anzuerkennenden Sorge für das Wohl des Kindes über den Tod der Eltern hinaus." |
Rz. 32
Der BGH will damit rechtfertigen, dass die sonst übliche Verweisung des Enterbten oder Beschränkten auf eine Beteiligung am Nachlass durch den völlig unbelasteten und unbeschwerten Pflichtteilsanspruch für diese Fallgruppe ausnahmsweise keine Lösung ist. Prämisse dieser Rechtsprechung ist und bleibt also m.E., dass dem Kind mit Behinderung "unter dem Strich" wirklich etwas zugutekommt, was ihm nicht zugutekäme, wenn es auf den Pflichtteilsanspruch reduziert wäre. (Das sind je nach sozialhilferechtlichem Bedarf des "Kindes" nach Umwandlung von Einkommen in Vermögen nach §§ 82 Abs. 7, 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII auf jeden Fall die verbleibenden 5.000 EUR und nach § 139 S. 2 SGB IX bei bloßem Bezug von Eingliederungshilfeleistungen 59.220 EUR (West) und 56.070 EUR (Ost) zum Stand 1.1.2021.)
aa) Ein Nutzen ist gar nicht beabsichtigt
Rz. 33
Ob es deshalb in der "Sozialhilfesackgasse" endet, falls mit einem Behindertentestament offenkundig andere Ziele verfolgt werden als die Verbesserung der Lebenssituation des Menschen mit Behinderung, ist bis heute nicht abschließend geklärt. Die Rechtsprechung "fasst" dieses Thema nicht an, dabei lässt sich gar nicht verheimlichen, dass als Behindertentestamente ausgestaltete Testamente z.T. ganz unverblümt darauf abzielen, den Menschen mit Behinderung schlichtweg von Nachlassmitteln fernzuhalten. Andererseits ist fraglich, ob die Motivation des Erblassers wirklich rechtserheblich ist. Es ist unbestrittene Rechtsprechung zur Nichtigkeit letztwilliger Verfügungen, dass es grundsätzlich ohne Bedeutung ist, welche Beweggründe den Erblasser veranlasst haben, bei der Verteilung seines Nachlasses von der gesetzlichen Erbfolge abzuweichen. Der letzte Wille des Erblassers ist grundsätzlich auch dort zu respektieren, wo seine Motive keine besondere Achtung verdienen. Und letztlich schuldet der Erblasser – anders als der Sozialhilfebezieher – der Solidargemeinschaft nichts (vgl. z.B. § 2338 BGB) "Dass Eltern bei der Erbfolge das gesunde Kind und seinen Stamm bevorzugen, …, reicht für sich genommen angesichts der lebzeitigen Versorgung des behinderten Kindes (durch Verfasserin angepasst) und des Grundsatzes der Testierfreiheit nicht aus, das Unwerturteil der Sittenwidrigkeit zu rechtfertigen."
Rz. 34
Die Leitsätze der Rechtsprechung zur Sittenwidrigkeit basieren nicht auf der Gesinnung des Erblassers, sondern darauf, dass die Testierfreiheit ihre Grenze im Pflichtteilsrecht des Abkömmlings findet, welches der Erblasser im Regelfall weder entziehen noch beschränken kann. Erst wenn auch diese Mindestteilhabe "geknebelt" wird, wird es problematisch. Und hier schließt sich der Kreis.
Das Pflichtteilsrecht als grundlegendes Fundament der Sittenwidrigkeitsprüfung muss dann allerdings auch die Frage danach auslösen, ob Behindertentestamente zugunsten von Nichtpflichtteilsberechtigten nicht in der einen oder anderen Richtung vollkommen anders zu beurteilen sind. Darauf gibt es bisher keine Antwort.
bb) Ein Nutzen kann nicht erreicht werden
Rz. 35
Wenn der BGH die (lebenslang?) günstigere Stellung des "Kindes" mit Behinderung durch Erbeinsetzung oder Vermächtnis gegenüber dem ihm ansonsten zustehenden Pflichtteilsanspruch einerseits und den drohenden Verlust sozialrechtlicher Leistungen andererseits auch 2019 noch als essentiell für die Verneinung der Sittenwidrigkeit des Behindertentestamentes ansieht, dann muss m.E. davon ausgegangen werden, dass dies ein Kontrollmaßstab für die Grenzen der Testierfreiheit und des faktischen Entzuges einer Mindestteilhabe am Nachlass i...