Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 44
Hat der Betroffene von den Anordnungen des Erblassers keinen Nutzen, weil das von der Rechtsprechung ausdrücklich gebilligte Ziel der Anhebung seines Lebensstandards über ein Grundsicherungsniveau hinaus nicht erreicht wird oder vielleicht nach der Vorstellung des Erblassers auch gar nicht erreicht werden soll, kommen für eine Sittenwidrigkeitsprüfung bzw. das Sittenwidrigkeitsverdikt mehrere Überlegungen in Betracht.
Ein Testament kann wegen Gestaltungsmissbrauchs bzw. Verstoßes gegen die guten Sitten ausnahmsweise nichtig sein. Das wird aber eher abzulehnen sein, wenn die Gestaltung für den Vorerben/den Sozialhilfeträger nicht alternativlos ist. In Betracht kommen folgende Überlegungen
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Dem behinderten Menschen kann die Ausschlagung nach § 2306 BGB zumutbar sein. |
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Evtl. kommt die Abänderung der Verwaltungsanordnungen nach § 2216 Abs. 2 S. 2 SGB XII durch einen Betreuer wegen wirtschaftlicher Gefährdung der am Nachlass beteiligten Personen in Betracht. |
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Das nicht verwendete und angesparte Vermögen ist Nachlassmasse des Vorerben/Vorvermächtnisnehmers und unterfällt beim Tod des Betroffenen der Erbenhaftung des § 102 SGB XII, soweit es nicht Grundsicherungsleistungen oder Eingliederungshilfeleistungen betrifft. |
aa) Nichtigkeit
Rz. 45
Eine letztwillige Verfügung verstößt gegen die guten Sitten oder eben nicht. Solange das Pflichtteilsrecht besteht und realisiert werden kann, besteht dafür keine Vermutung. Es spricht also auf dem Boden der Testierfreiheit des Erblassers grundsätzlich erst einmal nichts für eine Sittenwidrigkeit. Zusätzlich ist aber die Rechtsprechung des BGH zur Teilbarkeit letztwilliger Verfügungen in einen wirksamen und einen nichtigen Teil zu berücksichtigen. "Denn einerseits kann eine Verfügung, die nur durch ein Zuviel gegen die guten Sitten verstößt, nicht im Ganzen für nichtig erklärt werden, weil der Wille des Erblassers soweit als möglich zu beachten ist und nicht unbeachtet bleiben kann, soweit ein Verstoß gegen die guten Sitten nicht vorliegt; andererseits geht es nicht an, eine solche Verfügung insgesamt als wirksam zu behandeln".
Rz. 46
Wenn der Erblasser durch seine Kombination erbrechtlicher Gestaltungselemente so "geknebelt" wird, dass die Zielsetzung der Verbesserung des Versorgungsniveaus nicht erreicht werden kann, so bleibt dem Betroffenen gleichwohl das Ausschlagungsrecht nach § 2306 BGB mit dem Ergebnis, dass er den unbelasteten und unbeschwerten Pflichtteil erlangen kann. Das spricht gegen ein Nichtigkeitsergebnis. Dass diese Mittel in nachrangigen Sozialleistungssystemen angerechnet werden, entspricht dem Selbsthilfegrundsatz, der allen nachrangigen Leistungssystemen zugrunde liegt.
bb) Ausschlagung – § 2306 BGB
Rz. 47
Die Ausschlagung nach § 2306 BGB durch einen geschäftsfähigen Menschen mit Behinderung ist ohne weiteres möglich. Wenn der Betroffene oder sein Betreuer, die grundsätzlich mögliche Ausschlagung verweigern, so ist das ein Rechtsanwendungsproblem, nicht aber ein Sittenwidrigkeitsproblem. Hier wird sich die sozialhilferechtliche Rechtsprechung entscheiden müssen, ob sie eine solche Verweigerung zulasten der Solidargemeinschaft als sozialwidrig betrachtet und Leistungen generell verweigert oder auf die Mittel der Leistungsherabsetzung und der Kostenerstattung zurückgreift (§ 103 SGB XII, § 26 SGB XII), vgl. hierzu § 3 Rdn 544.
Scheut die Rechtsprechung aber davor zurück "Farbe zu bekennen", dann hat das keine Auswirkungen auf die Qualität der letztwilligen Verfügung. Sie wird dadurch nicht sittenwidrig.
Rz. 48
Ein anderes Ergebnis ergibt sich auch nicht deshalb, weil die Ausschlagung ggf. der Genehmigung des Betreuungsgerichtes bedarf. Für einen nicht geschäftsfähigen, unter Betreuung stehenden Menschen mit Behinderung bedarf die Ausschlagung durch den Betreuer der Genehmigung des Betreuungsgerichtes nach §§ 1908i, 1822 Nr. 2 BGB bzw. nach § 1851 Nr. 1 BGB n.F. ab 1.1.2023 (vgl. hierzu Fallbeispiel 36, siehe § 3 Rdn 449). Bisher sind Betreuungsgerichte durchaus zurückhaltend mit solchen Genehmigungen. Wenn dem behinderten Menschen aber "unter dem Strich" nichts zugutekommt, kann der Genehmigung der Ausschlagung das Wohl des behinderten Menschen nach § 1901 Abs. 2 BGB (§ 1821 BGB n.F.) nicht entgegenstehen. Es handelt sich also allenfalls um ein Rechtsanwendungsproblem. Wenn die Rechtsprechung die Genehmigung nicht erteilt, weil sie das Wohl des "Kindes" vor dessen Selbsthilfeverpflichtung setzt, so lässt sich daraus keine Nichtigkeit der letztwilligen Verfügung herleiten.
cc) Außerkraftsetzung von Verwaltungsanordnungen nach § 2216 Abs. 2 S. 2 BGB wegen Sittenwidrigkeit?
Rz. 49
Ob eine letztwillige Verfügung bzw. Verwaltungsanordnungen, durch die dem an sich pflichtteilsberechtigten Erben nichts zugutekommt, zu Fall gebracht werden können, kann man schließlich an § 2216 Abs. 2 S. 2 BGB messen (vgl. dazu § 3 Rdn 303 f.). Für ein zur Zielerreichung "überbeschwertes" Behindertentestament ha...