Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 52
Immer wieder wird angesprochen, dass es ein großes Risiko sei, dass zu den Gestaltungsvarianten, die sich alternativ zum klassischen Behindertentestament entwickelt haben (z.B. die Vermächtnislösung), bis heute keine gesicherte höchstrichterliche Rechtsprechung vorliegt. Dass eine solche Rechtsprechung fehlt, ist richtig. Eine Entscheidung des OVG Saarland setzt sich zwar bestätigend mit der Testamentsvollstreckungslösung auseinander, ist aber ungeeignet, daraus generelle Schlussfolgerungen abzuleiten. Auch eine Entscheidung des LSG Baden-Württemberg beschäftigt sich mit der Vermächtnislösung. Sie stammt aus dem SGB II und ist – trotz anderslautender Zitate im Schrifttum – nicht übertragbar, weil es im SGB XII keinen ausdrücklichen Schutz von Einkommen oder Vermögen wegen privat ausgesprochener Zweckbindungen gibt. Eine solche Anrechnungsfreiheit gibt es nicht einmal mehr im SGB II. Die Regelung ist mit dem Ziel der Angleichung an die Rechtslage im SGB XII abgeschafft worden. Eine generelle Nichtanrechenbarkeit von Zuwendungen aufgrund einer privaten Zweckbindung akzeptiert der Gesetzgeber daher nicht, auch nicht bei Behindertentestamenten. Das nimmt der Entscheidung des LSG Baden-Württemberg heute jede Aussagekraft.
Rz. 53
Die Erbeinsetzungslösung mit nichtbefreiter Vor- und Nacherbschaft bei Anordnung dauerhafter Testamentsvollstreckung oberhalb der Hälfte des gesetzlichen Erbteils (Erbschaftslösung – §§ 2113 ff., 2209, 2216 Abs. 2 BGB) gilt deshalb nach wie vor als der "Königsweg". Obwohl sie zu unerwünschten Erbengemeinschaften und den damit verbundenen Problemen führt, wird sie zumeist empfohlen als die Lösung, die den Behörden am besten vertraut ist und deshalb das geringste Risiko der Beanstandung bieten soll.
Rz. 54
Gleichwohl ist die Vermächtnislösung seit dem Inkrafttreten des neuen Eingliederungshilferechts des SGB IX am 1.1.2021 im Aufwind, weil sie kein zusätzliches Risiko gegenüber der Erbschaftslösung darstellt. Ihr bisheriges Problem war, dass der Nachvermächtnisnehmer – anders als der Nacherbe – nicht vom Erblasser erbt, sondern seine Stellung unmittelbar vom Vorvermächtnisnehmer ableitet. Hinterlässt der behinderte bedürftige Mensch nach seinem Tod etwas, so wurde befürchtet, könne es – vorbehaltlich eines geringen Freibetrages – für den Nachvermächtnisnehmer zur sozialrechtlichen Erbenhaftung (§ 102 SGB XII) oder sogar in Analogie zu §§ 2385 Abs. 1, 2382 BGB zur Haftung für die Schulden des Vorvermächtnisnehmers kommen. Die Bedenken bestehen gleichermaßen für die Testamentsvollstreckungslösung oder bei Erträgnissen, die der Testamentsvollstrecker im Rahmen der Verwaltungsanordnungen noch nicht ausgekehrt hat.
Rz. 55
Die sozialhilferechtliche Erbenhaftung ist eine Ausnahme von dem Grundsatz, dass Sozialhilfe nicht zurückgezahlt werden muss. Der Vorvermächtnisnehmer begründet durch den Sozialhilfebezug also keine Schulden. Die sozialhilferechtliche Erbenhaftung ist ein Kostenersatzanspruch. Die sozialhilferechtliche Erbenhaftung ist außerdem mittlerweile eine Besonderheit des SGB XII. Sie gilt z.B. nicht für den Bezug von Grundsicherungsleistungen (§§ 41 ff. SGB XII) und nicht für Eingliederungshilfeleistungen (§§ 90 ff. SGB IX), selbst wenn diese lebzeitig ohne Verpflichtung zum Vermögenseinsatz gewährt wurden. Die Erbenhaftung des § 35 SGB II ist abgeschafft und für das SGB IX überhaupt gar nicht erst eingeführt worden. Sie existiert auch in anderen nachrangigen Leistungssystemen nicht. Die Bedenken gegen die Vermächtnislösung sind daher weitgehend überholt, wenn nicht z.B. Hilfe zur Pflege nach §§ 61 ff. SGB XII – also eine Sozialhilfeleistung – bezogen wird.
Rz. 56
Zusammenfassung und Hinweis
Das "Behinderten"-Testament ist ein Konstrukt aus einer Zeit, in der die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung ohne Rückgriff auf deren Eltern noch in "den Kinderschuhen steckte" und das Nachrangprinzip seine größte Bedeutung hatte. Es ist ein Konstrukt aus einer Zeit, in der Sparvermögen regelhaft gute Erträge brachte. Es geht gedanklich von der Prämisse der Konstanz der Verhältnisse aus. Die vielen Jahre und Jahrzehnte, auf die dieses Konstrukt angelegt ist und die seit seiner Schaffung ins Land gegangen sind, belegen, dass keine der Prämissen wirklich Bestand hat. Man kann Mandanten nicht seriös vorhersagen, wie das Sozialhilferecht mit ihrem Sachverhalt in den nächsten zehn Jahren umgehen wird. Deshalb ist die Zeitspanne bis zur nächsten Prüfung und Aktualisierung eines solchen Testamentes in der Regel nur sehr kurz.