Rz. 188

Wäre der tragende Punkt für ein Behindertentestament wirklich die bisher erbrachte Lebensarbeitsleistung der Eltern von Menschen mit Behinderung und die Vorsorge dieser Eltern für den Fall einer Reduzierung der staatlichen Leistungen, so müsste man eine Vergleichbarkeit der Fälle ohne jedes "Wenn und Aber" ablehnen.[222] Letztlich geht es beim sog. Bedürftigentestament einfach nur darum, die Mittel aus Erbfall und Schenkung nicht vorrangig vor SGB II-Leistungen oder anderen nachrangigen Leistungen einsetzen zu müssen, sondern einen besseren Lebensstandard zu schaffen. Sozial- und Erbrechtler sind deshalb in ihrer Rechtsauffassung zur Sittenwidrigkeit anderer als Behindertentestamente naturgemäß gespalten.

Die sozialrechtliche Literatur hält es "vom Grundsatz her schon für sehr bedenklich solche Testamente mit einem derartigen Inhalt für das SGB II zuzulassen, da diese Personengruppe auf keinen Fall den Schutz benötigt, der beabsichtigt ist. Diese Testamente werden regemäßig nur dann aufgesetzt, um das Vermögen vor dem jeweiligen Träger in Sicherheit zu bringen."[223]

Dass die Kritiker damit nicht so ganz falsch liegen, zeigt sich an den gescheiterten Gestaltungen, die immer wieder vorkommen.

 

Rz. 189

 

Fallbeispiel 90: Der vollversorgte Hartz-IV- Empfänger

A, langjährig alkoholabhängig, stand beim Jobcenter im Leistungsbezug nach dem SGB II ("Hartz-IV" = § 19 SGB II). Er bewohnte mit seiner Mutter ein Einfamilienhaus und bezog Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Hilfe zur Unterkunft machte er nicht geltend.[224]

Als die Mutter, die ein notarielles Testament errichtet hatte, starb, hinterließ sie zu dem Einfamilienhaus eine weitere Immobilie. Nach dem Testament sollten A und ein Cousin zu je ½ Anteil erben. A wurde als Vorerbe, der Cousin als Nacherbe und Testamentsvollstrecker im Sinne einer Dauertestamentsverwaltungsvollstreckung eingesetzt. Es gab umfangreiche Verwaltungsanordnungen, wonach der Testamentsvollstrecker dem Miterben nach seinem freien Ermessen aus den Erträgnissen des Vermächtnisses zur Verfügung stellen sollte: "Taschengeld in angemessener Höhe, Kleidung, Bettwäsche, persönliche Anschaffungen, die Einrichtung und Gewährung einer Wohnung im bisherigen Umfang einschließlich der Anschaffung der dafür notwendigen Materialien und Ausstattungsgegenstände, ärztliche Behandlung, Therapien und Medikamente, die von der Krankenkasse nicht oder nicht vollständig bezahlt werden, z.B. Brille, Zahnersatz, Kuraufenthalte, Besuche bei Verwandten und Freunden." Auf die Substanz des Vermögens sollte der Testamentsvollstrecker zurückgreifen dürfen, sofern dies notwendig sei.

Der Testamentsvollstrecker veräußerte ein Haus und zahlte den Rest auf ein Testamentsvollstreckerkonto ein. Von diesem Konto zahlte er sämtliche Nebenkosten und Grundsteuern für das vom Kläger bewohnte Haus und betrieb die anfallenden Ausgaben für "Nahrungsmittel, Bekleidung, Telefon, Kranken- und Pflegeversicherung etc." Eingezahlt wurden auf dieses Konto auch die Sozialleistungen ("Hartz-IV"). Für persönliche Belange überwies der Testamentsvollstrecker dem Kläger monatlich 200 EUR.

Sozialhilfeleistungen für den Kläger wurden mangels Hilfebedürftigkeit eingestellt, als das Jobcenter von diesem Sachverhalt Kenntnis erhielt. A hielt das für rechtswidrig, da er sich durch das "Bedürftigentestament" mit der angeordneten Vorerbschaft-/Nacherbschaft und der Dauertestamentsvollstreckung geschützt fühlte. Seine Mutter habe ihm Nachlass und Sozialleistung nebeneinander zukommen lassen wollen.

 

Rz. 190

Das fehlgeschlagene Bedürftigentestament zeigt, worum es geht. Eltern haben nicht selten die Vorstellung, dass sie neben einer auskömmlichen Bedarfsdeckung die Sozialhilfeleistung noch zusätzlich als eine Art "Taschengeld" ermöglichen könnten. Die Falllösung zeigt, dass das so einfach nicht funktioniert. Hier sollte gelegentlich vielleicht der Gedanke eingebracht werden, dass ein Testament mit Testamentsvollstreckung unter Verzicht auf Sozialleistungen ggf. für wenigstens einige Zeit ein durchaus besseres Leben verspricht als ein Leben mit Sozialleistungen und den erheblichen Begrenzungen eines Bedürftigentestaments. Ein Erbe kann jedenfalls nicht dazu gezwungen werden, den Nachlass nur nach Maßgabe des Regelsatzes zu verleben. Andererseits kann der Bezug von SGB II-leistungen durchaus auch pädagogischen Charakter haben, weil er den Betroffenen bis auf weiteres in einer minimalen sozialen Struktur und in dem Versuch der Eingliederung in Arbeit hält, ihm gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung erhält etc.

 

Rz. 191

Falllösung Fallbeispiel 90:

Nach § 9 SGB II ist nicht hilfebedürftig, wer sich aus eigenem Einkommen (§§ 11 ff. SGB II) oder einem Vermögen (§ 12 SGB II) helfen kann (zu den Einzelheiten vgl. § 5). Das Gericht brauchte die schwierige Frage, wie der Testamentsvollstrecker seine Aufgabe eigentlich sozialhilfeunschädlich erfüllen soll, wenn doch zufließendes Einkommen so gut wie keine Verschonungstatbestände kennt und auch zufließendes...

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