Dr. Gudrun Doering-Striening
Rz. 246
In einem gemeinschaftlichen Testament sind nur wechselbezügliche Verfügungen nach dem Tod des Erstversterbenden bindend. Dasselbe gilt für vertragsmäßige Verfügungen in einem Erbvertrag. Wechselbezügliche bzw. vertragsmäßige Verfügungen sind Erbeinsetzung, Vermächtnis und Auflage.
1. Änderungsvorbehalte bei wechselbezüglichen/vertragsmäßigen Verfügungen
Rz. 247
Wechselbezügliche Verfügungen können nach dem Tod des Erstversterbenden geändert werden, wenn dem überlebenden Ehegatten hinreichend klare Abänderungskompetenzen eingeräumt worden sind. Beim Erbvertrag kann durch ein einseitiges, vertragliches Rücktrittsrecht (§ 2293 BGB) der Rücktritt durch Testament nach § 2297 BGB den Weg zur Abänderung vertragsmäßiger Verfügungen öffnen.
Bei der Gestaltung einer Abänderungsklausel sind die Ehegatten frei in ihrer Gestaltung. Haben die Ehepartner verfügt, dass der Überlebende über den Nachlass "frei verfügen" könne, kann dies in mehrfacher Hinsicht verstanden werden und muss ggf. ausgelegt werden.
Rz. 248
Eine Abänderungsbefugnis muss nicht ausdrücklich im gemeinschaftlichen Testament geregelt sein, sie kann sich auch konkludent aus der letztwilligen Verfügung ergeben. Eine mögliche Auslegung kann darin bestehen, dass die Schlusserbeinsetzung insgesamt nicht wechselbezüglich sein soll. Eine Auslegung kann darin bestehen, dass sich die Ehegatten Abänderungsmöglichkeiten eingeräumt hätten, wenn sie von einer nicht vorhersehbaren Entwicklung gewusst hätten. Rechtsprechung und Literatur ziehen hier aber enge Grenzen: "Für die Annahme einer durch ergänzende Auslegung des Erbvertrags zu schließenden Lücke dahin, dass die Vertragsschließenden bei Kenntnis der späteren Entwicklung (hier: geistige Behinderung des gemeinsamen Sohnes) anders testiert, nämlich den Sohn nicht uneingeschränkt als Erben eingesetzt hätten, ist kein Raum, solange der Erbvertrag nicht andeutet, in welcher Weise er angepasst oder eine andere Form der letztwilligen Verfügung gewählt worden wäre."
Rz. 249
Mit allen Risiken, die eine Abänderungskompetenz hat, bietet sie den Vorteil, flexibel auf nicht vorhergesehene oder nicht vorhersehbare Veränderungen und Entwicklungen reagieren zu können. Mit einer solchen Abänderungskompetenz können insbesondere unzureichende "Schutzringe" für den Nachlass des behinderten Erben/Vermächtnisnehmers nachgebessert werden. Es sollte daher nicht auf die konkludente Abänderung vertraut werden, sondern eine ausdrückliche Abänderungskompetenz für den Überlebenden vorbehalten bleiben.
2. Auslegung
Rz. 250
Die Sozialhilfeschädlichkeit von Fallgestaltungen, bei denen Pflichtteilsansprüche entstehen, wurde vorstehend viele Male dargestellt. Gleichwohl geschieht es in der Praxis.
Fallbeispiel 97: Die Pflichtteilsstrafklausel
Die Eheleute M und V setzen sich wechselseitig als Alleinerben ein und treffen die Anordnung, dass nach dem Tod des Letztversterbenden ihr Sohn S zu 70 % als Erbe und ihre heimpflegebedürftige Tochter T zu 30 % als nicht befreite Vorerbin eingesetzt ist.
Sollte eines der Kinder auf den Tod des Erstversterbenden den Pflichtteil verlangen, erhält er auch auf den Tod des Letztversterbenden nur seinen Pflichtteil. Der Sozialhilfeträger leitet die Pflichtteilsansprüche der Eltern nach deren Tod jeweils auf sich über und macht den Pflichtteil geltend. Für beide Erbfälle richtig?
Rz. 251
Um Kinder von der Geltendmachung von Pflichtteilsansprüchen abzuhalten, wird in letztwillige Verfügungen oft eine Pflichtteilsstrafklausel eingebaut, wonach ein Kind, das seinen Pflichtteil nach dem erstversterbenden Ehegatten verlangt, auch nach dem Tod des Überlebenden "auf den Pflichtteil gesetzt wird." Damit entsteht eine Schein-Sicherheit, die durch diese Klausel suggeriert wird ("Das wird ein Kind doch vernünftigerweise nicht tun!"). In der Literatur ist diese Lösung unter dem Stichwort "Kolumbus-Ei oder trojanisches Pferd?" diskutiert worden. Der BGH hat sich bisher für das "trojanische Pferd" entschieden und ausgeführt, dass der Sozialleistungsträger den Pflichtteilsanspruch nach dem Erstversterbenden überleiten und geltend machen kann: "Der Pflichtteilsanspruch kann, wenn er auf den Sozialhilfeträger übergeleitet worden ist, von diesem auch geltend gemacht werden, ohne dass es insoweit auf eine Entscheidung des Pflichtteilsberechtigten ankäme."
Rz. 252
Der Pflichtteilsanspruch entsteht mit dem Erbfall kraft Gesetzes und wird sofort fällig (§ 2317 BGB). Er stellt also Einkommen oder ggf. Vermögen dar, das lediglich kein "bereites Mittel" im Sinne des Sozialhilferechtes ist, weil es erst realisiert werden muss. Damit ist eine Pflichtteilsstrafklausel in einem Testament kein geeignetes Mittel zur Erreichung...