Rz. 2
Auch außerhalb des Punktsystems können Verkehrsverstöße Eignungszweifel begründen, wobei die Fahrerlaubnisbehörde die Bewertungen des Punktsystems zu beachten hat. Wie die gesetzlichen Regelungen der §§ 11 Abs. 3 Nr. 4, 13 Nr. 2b FeV zeigen, besteht jedenfalls kein Numerus clausus des Punktsystems (siehe dazu auch § 12 Rdn 21 ff.).
I. Besondere Auffälligkeit erforderlich
Rz. 3
Ergeben sich gewichtige Anhaltspunkte für ein gestörtes Regelverständnis oder ein besonders hohes Aggressionspotential eines Führerscheininhabers, so muss nicht abgewartet werden, dass der Betreffende 8 Punkte im Fahreignungsregister erreicht und erst damit kraft Gesetzes unwiderleglich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen gilt.
Rz. 4
Bereits vor Erreichen eines Punktestandes im VZR, der einen Entzug der FE nach sich zieht, kann die Verkehrsbehörde die charakterliche Eignungsüberprüfung fordern. Allerdings müssen hier besondere Umstände hinzutreten, die Zweifel an der charakterlichen Eignung begründen. Denn grundsätzlich ist es Aufgabe des Punktsystems, wiederholt im Straßenverkehr auffällige Kraftfahrer zu einem verkehrsgerechten Verhalten anzuhalten. Solche besonderen Umstände können in der Häufung von erheblichen Zuwiderhandlungen in kurzer Zeit oder in der besonderen Schwere einer Zuwiderhandlung begründet sein. Hierbei ist allerdings wegen des grundsätzlichen Vorrangs des Punktsystems von den Behörden Zurückhaltung zu üben. Die Behörde muss dies ausdrücklich und auf den Einzelfall bezogen in der Begutachtungsaufforderung begründen.
Rz. 5
Für ein Vorgehen der Fahrerlaubnisbehörde außerhalb des Punktsystems bestehen nach der Rechtsprechung hohe Anforderungen. Je schwerer eine Verletzung gesetzlicher Vorschriften in Beziehung auf die Verkehrssicherheit wiegt oder je häufiger der Betroffene gegen gesetzliche Vorschriften verstößt, desto geringere Anforderungen sind an die Ermessensbetätigung zu stellen. Umgekehrt kann eine Gutachtensanordnung wegen eines einmaligen erheblichen oder wegen wiederholter weniger nichterheblicher Verstöße gegen verkehrsrechtliche Vorschriften nur Bestand haben, wenn die Fahrerlaubnisbehörde über eine schematische Bezugnahme auf die Verkehrsverstöße hinaus tatsächliche Ermittlungen und Erwägungen angestellt hat, die eine solche Entscheidung im Einzelfall zu tragen vermögen. Von der Wertung des Punktsystems darf nur abgewichen werden, wenn dies die Verkehrssicherheit und damit die Sicherheit der anderen Verkehrsteilnehmer gebietet.
Das ist etwa der Fall bei einem Erreichen von 10 Punkten nach dem alten Punktsystem innerhalb eines Jahres, nachdem bereits zuvor die FE wegen Erreichens von 18 Punkten (nach dem alten Punktsystem) entzogen worden war. Hier ist zu besorgen, dass der Betroffene durch die außergewöhnliche Häufung von Auffälligkeiten möglicherweise charakterlich ungeeignet ist. Das Mehrfachtäter-Punktsystem erweist sich angesichts der Häufung als dem Einzelfall nicht gerecht werdend. Das Einschreiten außerhalb des Punktsystems ist nach einer Wiedererteilung der FE nach früherem Erreichen von 8 Punkten und kurz danach Überschreiten der Höchstgeschwindigkeit außerorts um 21 km/h (bewertet mit einem Punkt) andererseits aber wohl noch nicht gerechtfertigt.
II. Medizinisch-psychologische Untersuchung erforderlich für den Nachweis der charakterlichen Ungeeignetheit
Rz. 6
Zur Feststellung einer charakterlichen Ungeeignetheit bedarf es grundsätzlich eines medizinisch-psychologischen Gutachtens. Denn ein Verwaltungsbeamter verfügt nicht über das besondere Wissen, das zur Beurteilung einer entsprechenden Gefährlichkeitsprognose erforderlich ist. Im medizinischen Teil der medizinisch-psychologischen Untersuchung wird geklärt, ob die Auffälligkeit auf organische Ursachen zurückzuführen ist, im psychologischen Teil wird die Persönlichkeit des Betroffenen untersucht und prognostiziert, ob auch zukünftig mit der Gefahr wiederholter, erheblicher Zuwiderhandlungen im Straßenverkehr gerechnet werden muss. Hierzu formulieren die Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahrereignung in Nr. 3.16 Leitsätze für die Nichteignung nach dem Begehen von Straftaten, in Nr. 3.17 Leitsätze für die Nichteignung nach Verstößen gegen verkehrsrechtliche Vorschriften.
III. Ermächtigungsgrundlagen für medizinisch-psychologische Untersuchung
Rz. 7
§ 11 Abs. 3 S. 1 Nr. 4–7 FeV ist in diesen Fällen die Ermächtigungsnorm für die Anordnung zur Beibringung eines medizinisch-psychologische...