Mallory Völker, Monika Clausius
Rz. 107
Der Gesetzgeber hat bei Schaffung des KJHG die besondere Bedeutung der Inobhutnahme im Sinne einer Krisenintervention in kurzfristigen pädagogischen Ausnahmesituationen hervorgehoben. Durch vorläufige Maßnahmen in Eil- und Notfällen soll die Jugendhilfe zum Schutz von Kindern und Jugendlichen handeln können.
Rz. 108
Die in den letzten 10 Jahren zu verzeichnende Zunahme von Inobhutnahmen, insbesondere in ihrer besonderen Ausprägung zum Schutz unbegleiteter ausländischer Kinder und Jugendlicher, war bei Schaffung des Gesetzes in dieser Form nicht voraussehbar. Die Ursachen für das signifikante Ansteigen der Inobhutnahmen bereits im Inland lebender Kinder und Jugendlicher liegen in einer zunehmenden Sensibilität der Öffentlichkeit bezüglich der Vernachlässigung und Misshandlungen von Kindern, einer feststellbaren ansteigenden elterlichen Überforderung, aber auch in einer oft nicht ausreichenden Fehleranalyse seitens des Jugendamtes im Vorfeld der Inobhutnahme, verbunden dann mit einer gegebenenfalls objektiv vermeidbaren Herausnahme des Kindes aus seinem familiären Umfeld. Unbegründete Inobhutnahmen wiegen vor dem Hintergrund der damit verbundenen Verletzung des verfassungsrechtlich verbrieften Elternrechts gem. Art. 6 Abs. 2 GG bzw. den Schutz nach Art. 8 Abs. 1 EMRK schwer. Dies gilt umso mehr, als sich die Rückführung eines Kindes in den elterlichen Haushalt im Einzelfall nicht nur schwierig gestalten, sondern möglicherweise aufgrund – durch Zeitablauf – geschaffener vollendeter Tatsachen sogar gänzlich scheitern kann. Dass hiermit für alle Beteiligten nicht wieder gutzumachende Konsequenzen verbunden sind, steht außer Frage (zur Problematik der Rückführung von Kindern, die längere Zeit in einer Pflegefamilie untergebracht waren, siehe § 4 Rdn 23 ff.).
Rz. 109
Die Jugendämter sind daher regelmäßig mit dem Problem konfrontiert, das Elternrecht und die Erfordernisse des staatlichen Wächteramtes im Interesse der eigenen Rechte der betroffenen Kinder und Jugendlichen in praktische Konkordanz zu bringen. Maßnahmen des Jugendamtes sind daher darauf zu überprüfen, ob im konkreten Einzelfall die Inobhutnahme zwingend notwendig war.
Rz. 110
Die der Inobhutnahme zugrundeliegende Entscheidung des Jugendamtes ist ein Verwaltungsakt, der den Adressaten – also sowohl dem Kind als auch dem Personensorgeberechtigten – bekannt zu geben (§ 37 Abs. 1 SGB X) und zu begründen ist (§ 35 Abs. 1 S. 2 SGB X). Die Inobhutnahme wird mit der Bekanntgabe wirksam. Davon abzugrenzen ist die Herausnahme eines Kindes durch das Jugendamt in Ausübung eines familiengerichtlichen Beschlusses, mit welchem dem Jugendamt (vorläufig) das Aufenthaltsbestimmungsrecht übertragen wurde. Dies stellt keinen Verwaltungsakt dar, sondern ist lediglich die Realisierung der familienrechtlichen Entscheidung zur Wahrnehmung des übertragenen Rechts. Die Entscheidung darüber, ob die Inobhutnahme erfolgt, liegt allein bei dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe und ist nicht übertragbar. Mit Blick auf die Vorgaben des § 76 Abs. 1 SGB VIII dürfen sich die Jugendämter lediglich zur Durchführung ihrer Aufgaben anerkannter Träger der freien Jugendhilfe bedienen (§§ 3 Abs. 3 S. 2, 76 Abs. 1 SGB VIII) und begründen insoweit ein öffentlich-rechtliches Auftragsverhältnis mit entsprechender Verpflichtung zum Aufwendungsersatz.
Rz. 111
Gegen die Inobhutnahme kann beim Jugendamt Widerspruch eingelegt werden. Ein solcher Anfechtungswiderspruch hat gem. § 80 Abs. 1 VwGO grundsätzlich aufschiebende Wirkung, so dass im Fall eines eingelegten Widerspruchs immer auch zu prüfen ist, ob die sofortige Vollziehung gem. § 80 Abs. 2, 3 VwGO angeordnet wurde. Die Bewertung der Rechtmäßigkeit der Inobhutnahme und insbesondere deren Aufrechterhaltung nach eingelegtem Widerspruch, einschließlich der Frage der Kostentragung, unterliegt – in Abgrenzung zu Fragen der Personensorge – der verwaltungsgerichtlichen Prüfung. In einem etwaigen verwaltungsgerichtlichen Verfahren kann insbesondere die Prozessfähigkeit bzw. Antragsbefugnis problematisch sein. Unabhängig davon, ob die Eltern als gesetzliche Vertreter für das Kind im Verfahren auftreten oder die Verletzung von Elternrechten durch die Inobhutnahme geltend machen, ist stets zu prüfen, ob möglicherweise bereits durch ein parallel laufendes familiengerichtliches Verfahren Regelungen zur elterlichen Sorge getroffen wurden. Wurde etwa durch familiengerichtlichen Beschluss die elterliche Sorge insgesamt oder in Teilbereichen etwa zum Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen und auf das Jugendamt übertragen, so entfällt hierdurch auch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren die Prozessfähigkeit bzw. Aktivlegitimation. Steht daher eine Inobhutnahme unmittelbar bevor oder ist eine solche gerade erst erfolgt, so empfiehlt es sich, unverzüglich mit einer Schutzschrift einem zu erwartenden Antrag des Jugendamtes entgegenzutreten, um zumindest im familiengerichtlichen Verfahr...