Inga Leopold, Dr. iur. Jürgen Peter
Rz. 33
Gegenstand des Anhörungsverfahrens ist die arbeitgeberseitige Beendigung des Arbeitsverhältnisses durch Kündigung. Die Arbeitnehmerkündigung wird nicht erfasst. Sonstige Beendigungstatbestände und damit im Zusammenhang stehende Lebenssachverhalte werden von § 102 BetrVG ebenfalls nicht erfasst. § 102 BetrVG "erledigt" auch nicht sonstige weitere Beteiligungstatbestände, die in Abhängigkeit vom jeweiligen Einzelfall nach dem BetrVG oder anderen Gesetzen zusätzlich gegeben sein können.
1. Kündigung des Arbeitsverhältnisses durch den Arbeitgeber
Rz. 34
Die Verpflichtung zur Anhörung betrifft jede Kündigung: die ordentliche, die außerordentliche, die vorsorgliche, die wiederholende, die Änderungskündigung, die Kündigung in den ersten sechs Monaten, die Kündigung in der Probezeit, die Kündigung in sonstigen Fällen fehlenden Kündigungsschutzes, die Kündigung von befristeten Arbeitsverhältnissen – sofern überhaupt zulässig – und die Kündigung in "vermeintlichen" Eilfällen.
Rz. 35
Besondere Sorgfalt ist bei sog. Wiederholungskündigungen und bei sog. “Vorratsanhörungen“ geboten. Spricht der Arbeitgeber eine Kündigung aus, die er auf den gleichen Sachverhalt stützt, zu dem bereits eine Betriebsratsanhörung erfolgt ist, dann kann der Arbeitgeber eine derartige Kündigung ohne erneute Betriebsratsbeteiligung aussprechen, wenn ein zeitlicher Zusammenhang zur Anhörung besteht und der Kündigungssachverhalt sich nicht geändert hat. Derartige Konstellationen kommen insbesondere dann vor, wenn der Arbeitgeber Zweifel hat, ob die Kündigung zugegangen ist oder sonstige Wirksamkeitszweifel bestehen. Dabei vertritt das BAG die Auffassung, dass eine erneute Beteiligungspflicht regelmäßig dann gegeben ist, wenn die "erste" Kündigung dem Arbeitnehmer bereits zugegangen ist. Das BAG stellt auf einen Anhörungsverbrauch ab und fragt, ob der Arbeitgeber seinen ursprünglichen Kündigungswillen bereits verwirklicht hat. Dabei nimmt das BAG einen Verbrauch des Kündigungsrechts sogar dann an, wenn ein Bevollmächtigter für den Arbeitgeber kündigt und dieser wegen nachträglich eingetretener Zweifel an der Zurechenbarkeit der ersten Kündigung eine "neue" Kündigung ausspricht. Nach der Rechtsprechung ist danach eine erneute Beteiligung des Betriebsrats nach einer bereits ausgesprochenen Kündigung nur dann entbehrlich, wenn das frühere Anhörungsverfahren ordnungsgemäß war, der Betriebsrat der Kündigung vorbehaltlos zugestimmt hat und die Wiederholungskündigung in engem zeitlichem Zusammenhang ausgesprochen und auf denselben Sachverhalt gestützt wird. Auch wenn in der Literatur zu Recht darauf hingewiesen wird, dass der Arbeitgeber in den "Heilungsfällen" (Formnichtigkeit, Bevollmächtigung, Sicherstellung Zugang) keinen neuen Kündigungsentschluss gefasst hat mit der Folge, dass "eigentlich" der Betriebsrat nicht noch Mal zu beteiligen ist, ist der Praxis dringend zu raten, eine neue Betriebsratsanhörung durchzuführen, um den restriktiven Anforderungen des BAG im Zweifel Rechnung zu tragen. Diese Empfehlungen gelten auch nach der Entscheidung des BAG vom 3.4.2008. Mit dieser Entscheidung hat das BAG seine vorgenannte Spruchpraxis nicht aufgegeben, wonach jede Kündigung des Arbeitgebers der vorherigen Anhörung des Betriebsrats bedarf; die restriktive Rechtsprechung wurde vielmehr bestätigt. Bei der äußerst seltenen Ausnahmekonstellation, über die das BAG zu entscheiden hatte, war davon auszugehen, dass vor der ausgesprochenen ersten Kündigung des Arbeitgebers überhaupt noch keine Stellungnahme des Betriebsrats vorlag, sodass unter betriebsverfassungsrechtlichen Gesichtspunkten erst die weitere ausgesprochene zweite Kündigung nach Anhörung des Betriebsrats ausgesprochen worden ist. Das BAG hat diesen Sonderfall so behandelt, als hätte der Arbeitgeber zunächst ohne Einschaltung des Betriebsrats gekündigt und sodann nach ordnungsgemäßer Anhörung des Betriebsrats eine weitere Kündigung ausgesprochen. Dies ist zutreffend, denn es macht keinen Unterschied, ob der Arbeitgeber vor Ausspruch einer Kündigung von der erforderlichen Anhörung des Betriebsrats gänzlich absieht oder, ohne die Stellungnahme des Betriebsrats abzuwarten, kündigt. Die weitere Kündigung leidet dann nicht an dem Mangel der Anhörung, wenn sich der Betriebsrat mit der Anhörung des Arbeitgebers – trotz bereits ausgesprochener (erster) Kündigung – noch beschäftigt und dazu abschließend Stellung nimmt und der Arbeitgeber anschließend die weitere (zweite) Kündigung ausspricht, denn entscheidend ist, dass der Betriebsrat bei jeder vom Arbeitgeber beabsichtigten Kündigung seine ihm gesetzlich eingeräumten Rechte unter Ausschöpfung der dafür vorgesehenen Fristen wahrnehmen kann.
Rz. 36
Von der Problematik der sog. Wiederholungskündigung zu unterscheiden ist die Frage der sog. Vorratsanhörung. Von einer solchen wird immer dann gesprochen, wenn der Arbeitgeber zu einem bestimmten Kündigungssachverhalt den Betriebsrat nach § 102 BetrVG beteiligt, den Ausspruch der Kündigung aber erst mit einem erheblichen zeitlichen Abstan...