Rz. 42
Bisher war fraglich, ob der Begriff des "Inverkehrbringens" wirklich geeignet ist, für ausreichende Transparenz zu sorgen. In verschiedenen europäischen Richtlinien bzw. Verordnungen und zahlreichen nationalen gesetzlichen Vorschriften und in verschiedenen vertraglichen Regelwerken wird häufig auf den Begriff des Inverkehrbringens abgestellt.
Rz. 43
Die amtliche Begründung zu § 1 ProdHaftG geht davon aus, dass ein Produkt gewöhnlich dann "in den Verkehr gebracht" ist, wenn es "in die Verteilungskette" gegeben worden ist, wenn der Hersteller es also aufgrund seines Willensentschlusses einer anderen Person außerhalb seiner Herstellungssphäre übergeben hat.
Demgegenüber definiert der Gesetzgeber im neuen ProdSG 2021 das "Inverkehrbringen" als die erstmalige Bereitstellung eines Produkts auf dem Markt (§ 2 Nr. 16 ProdSG).
Rz. 44
Der EuGH hat den Begriff des "Inverkehrbringens" wie folgt ausgelegt: Ein Produkt ist (i.S.d. Produkthaftungsrichtlinie 85/374/EWG) in den Verkehr gebracht, wenn es den "beim Hersteller eingerichteten Prozess der Herstellung verlassen hat und in einen Prozess der Vermarktung eingetreten ist, indem es in ge- oder verbrauchsfertigem Zustand offensichtlich angeboten wird". Dabei soll es zwar grundsätzlich unerheblich sein, ob der Hersteller das Produkt unmittelbar an den Verbraucher verkauft, oder ob der Verkauf im Wege des Vertriebs mit mehreren Beteiligten erfolgt, so dass auch der Verkauf an eine Vertriebsgesellschaft grundsätzlich als "Inverkehrbringen" betrachtet werden kann.
Streitig kann die Sachlage sein, wenn der Hersteller das Produkt an einen "Tester" übergibt, der es – außerhalb des Werkgeländes – prüfen soll. Durchaus lässt sich insoweit anführen, das "Inverkehrbringen" setze den vorherigen Abschluss des Entwicklungs- und Produktionsprozesses voraus.
Rz. 45
Von dieser "Verflochtenheit" abgesehen dürfte ein "Überlassen auf dem Markt", wenn es auf einem Willensentschluss des Herstellers basiert, an "andere" im Regelfall aber schon dann vorliegen, wenn es die Sphäre des Herstellers – erkennbar nach außen – verlassen hat. Wenn – und diese Anmerkungen des EuGH gilt es bei der Auslegung der Versicherungsbedingungen nach den §§ 133, 157 BGB zu berücksichtigen – der Versicherungsnehmer das Produkt bewusst und freiwillig an nicht verflochtene Dritte überlassen hat, ist von einem "Inverkehrbringen" auszugehen. Jedenfalls – so lässt sich noch klarer formulieren – ist von einem "Inverkehrbringen" auszugehen, wenn der Versicherungsnehmer bewusst und freiwillig sein Produkt und die Sachherrschaft daran aufgibt. Auf das Merkmal des "Aufgebens der Sachherrschaft" sollte bei der Interpretation der versicherungsvertraglichen Auslegung nicht ohne Not verzichtet werden. Denn die Beibehaltung dieser Begriffe basiert auf gesetzlicher Grundlage und sorgt somit für hinreichende Klarheit: M.E. genügt es, auf die nach außen erkennbare Beendigung der tatsächlichen Sachherrschaft zu verweisen und von einer willentlichen Begebung auszugehen (vgl. §§ 1 Abs. 2, 3 Abs. 1 und 3 Abs. 2 ProdHaftG i.V.m. §§ 856 Abs. 1 S. 1 Alt. 1 und 856 Abs. 2 BGB). Danach genügt im Regelfall die "Auslieferung an den Abnehmer" des Produkts.
Rz. 46
Andererseits darf das Willensmoment nicht unbeachtet bleiben. Werden Produkte gestohlen oder unterschlagen (§§ 242, 246 StGB), liegt m.E. kein "Inverkehrbringen" vor.