Dr. Michael Nugel, Dipl.-Ing. André Schrickel
Rz. 78
Die Betrachtung dazu erfolgt in einem Weg-Zeit-Diagramm. Hierin werden die Annäherungsvorgänge der beiden Unfallbeteiligten aufgetragen. Eine direkte Verknüpfung ergibt sich mit der Kollision. Hier sind die Positionen und Geschwindigkeiten in der Regel mit engen Toleranzen einzugrenzen. Eine zweite Verknüpfung der Handlungsweisen der Beteiligten ergibt sich durch die Reaktion. Eine Vollbremsung wird als Abwehr eines hohen Gefahrenpotentials ausgeführt. Der zweite Unfallbeteiligte muss sich zu diesem Zeitpunkt in einer sogenannten Signalposition befunden haben, die für den die Vollbremsung Ausführenden eine eindeutige Gefahrensituation darstellt.
Rz. 79
Die Festlegung dieser Signalposition hat gravierende Auswirkungen auf die Bestimmung der Anfangsgeschwindigkeit des ersten Unfallbeteiligten. Sie hängt von den unterschiedlichsten Faktoren ab. Vorab sind insbesondere die entscheidenden juristischen Vorgaben zu berücksichtigen.
Maßgeblich für die Vermeidbarkeitsbetrachtung ist die Bestimmung der kritischen Verkehrssituation, ab der ein an sich bevorrechtigter Fahrzeugführer nicht mehr darauf vertrauen kann, dass sein Vorrangrecht durch den anderen Verkehrsteilnehmer gewahrt und mithin eine Signalposition für eine sofort zu erwartende Reaktion gesetzt wird. Die kritische Verkehrslage beginnt für einen Verkehrsteilnehmer jedenfalls dann, wenn die ihm erkennbare Verkehrssituation konkreten Anhalt dafür bietet, dass eine Gefahrensituation unmittelbar entstehen kann.
Davon zu unterscheiden ist die sog. Warnposition, bei welcher noch nicht ernsthaft eine Missachtung des Vorrangrechts anzunehmen ist, dies aber zumindest (z.B. aufgrund einer schnellen oder ungebremsten Zufahrt) möglich ist. Dann ist nämlich der bevorrechtigte Fahrzeugführer gehalten, seine Geschwindigkeit zumindest angemessen zu verringern und bremsbereit zu sein, woraus sich auch eine verminderte Reaktionszeit ergibt.
Rz. 80
Muster 12.7: Korrektur der Signalposition
Muster 12.7: Korrektur der Signalposition
Die vom Sachverständigen gewählte Signalposition, ab welcher er davon ausgeht, dass eine Reaktionsaufforderung für ein Vermeidbarkeitsverhalten vorliegt, ist bei der gebotenen juristischen Würdigung zu korrigieren. Maßgeblich für die Vermeidbarkeitsbetrachtung ist die Bestimmung der kritischen Verkehrssituation, ab der ein an sich bevorrechtigter Fahrzeugführer nicht mehr darauf vertrauen kann, dass sein Vorrangrecht durch den anderen Verkehrsteilnehmer gewahrt wird und mithin eine Signalposition für eine sofort zu erwartende Reaktion gesetzt wird (BGH, Urt. v. 22.11.2016 – VI ZR 533/15 – juris; BGH, Urt. v. 20.9.2011 – VI ZR 282/10 = NJW-RR 2012, 157; OLG Saarbrücken, Urt. v. 3.8.2017 – 4 U 156 & 16 = zfs 2018, 137).
Insoweit wird dieser Moment vom Sachverständigen bestimmt, als das in die vorfahrtsberechtigte Straße einfahrende Fahrzeug die Fluchtlinie in der Kreuzung mit _________________________ überschritten hat. Dabei wird jedoch nicht beachtet, dass dieses Fahrzeug mit einer so hohen Geschwindigkeit in den Kreuzungsbereich eingefahren ist, dass bereits deutlich vorher erkennbar war, dass der Fahrzeugführer niemals rechtzeitig anhalten kann, um die Vorfahrt zu gewähren. Die aus juristischer Sicht zutreffende Signalposition ist daher in einer Distanz von _________________________ Meter vor dem Kreuzungsbereich anzusetzen. Der Sachverständige mag eine ergänzende Berechnung der Vermeidbarkeitsbetrachtung unter dieser Vorgabe vornehmen.
Rz. 81
Für verschiedene Fallgruppen sind in der Rechtsprechung diesbezüglich auch schon verschiedene Vorgaben entwickelt worden. Betritt beispielsweise ein Fußgänger zügig die Fahrbahn und ist es ernsthaft möglich, dass er diesen Weg auch auf die zweite Fahrbahnhälfte fortsetzt, wird schon in diesem Moment eine Warnposition ausgelöst, jedoch noch keine Signalposition.
Rz. 82
Das Aufleuchten der Rückwärtsscheinwerfer als Ankündigung einer möglichen Rückwärtsfahrt begründet für sich gesehen auch noch keine kritische Reaktionsaufforderung, sondern allenfalls eine Warnposition. Denn es gibt genug Situationen, bei denen der Fahrzeugführer, welcher rückwärtsfahren möchte, dieses Fahrmanöver noch zurückstellt und den Vorrang des anderen Verkehrsteilnehmers beachtet, auch wenn er in Vorbereitung der Rückwärtsfahrt schon den dafür maßgeblichen Gang eingelegt hat.
Rz. 83
Eine Reaktionsaufforderung besteht demgegenüber aber schon, wenn ein wartepflichtiger Verkehrsteilnehmer direkt auf einen Kreisverkehr zufährt und mit seiner ungebremsten Einfahrt zu rechnen ist.
Rz. 84
Die späteste Reaktionsaufforderung liegt aus technischer Sicht im Übrigen dann vor, wenn der Unfallgegner direkt in den Fahrbereich des Bevorrechtigten eindringt. Die Intensität der Gefahr ergibt sich aber auch aus der Geschwindigkeit mit der dieses Eindringen stattfindet. Aus der Kombination des Abstandes des Unfallgegners beim Erreichen der Signalposition vom späteren Kollisionsort und der eingehaltenen Geschwindigkeit ergibt sich die...