Dr. Michael Nugel, Dipl.-Ing. André Schrickel
I. Die Arbeit des Sachverständigen
Rz. 45
Der Unfallsachverständige wird hinzugezogen, wenn die Aufklärung des Unfallgeschehens dies als erforderlich erscheinen lässt.
1. Gutachten schon im Strafverfahren als mögliche Grundlage für die spätere Verwertung im Zivilprozess
Rz. 46
Dies kann bereits in einer sehr frühen Phase geschehen, wenn nämlich aufgrund der Schwere eines Unfalls der Verursacher im Rahmen eines Strafprozesses ermittelt werden soll. Die Polizei kann in Abstimmung mit der Staatsanwaltschaft einen Sachverständigen bereits zur Unfallaufnahme hinzuziehen. Sachverständige können eine Rufbereitschaft anbieten, so dass sie auch außerhalb ihrer Bürozeiten zu einem Zeitpunkt tätig werden können, bei dem sich die Situation so darstellt, wie sie in der Regel auch von der Polizei vorgefunden wird.
Dem Sachverständigen bietet sich in dieser Phase die Möglichkeit, sämtliche zur Verfügung stehenden objektiven Anknüpfungspunkte selbstständig zu sichern. Da er aufgrund seiner Sachkunde einschätzen kann, welche Anknüpfungspunkte für die Ausarbeitung erforderlich sind, kann er eine detailliertere Beweissicherung durchführen als Polizisten, die für Verkehrsunfälle nicht gesondert geschult sind. Er kann bereits an der Unfallstelle Vorstellungen zum Unfallablauf entwickeln und seine Spurensicherung darauf abstimmen. In dieser Phase liegt eine besondere Verantwortung auf ihm, weil Versäumnisse bei der Beweissicherung nachträglich nicht mehr korrigiert werden können. So verschwinden beispielsweise Splitterfelder und Endpositionen direkt bei der Räumung der Unfallstelle. Auch Aufzeichnungen in Tachografen oder Steuergeräten können überschrieben werden, wenn die Unfallfahrzeuge wieder in Betrieb gesetzt werden.
Der Sachverständige sollte sich bewusst sein, dass seine erste Begutachtung richtungsweisend für die Regulierung der Unfallfolgen ist. Sein Ergebnis kann darüber entscheiden, ob überhaupt ein Rechtsstreit begonnen wird. Hier getroffene Fehleinschätzungen lassen sich nachträglich nur mit großem Aufwand wieder korrigieren.
Rz. 47
In der Regel wird der Sachverständige aber erst tätig, nachdem das Unfallgeschehen bereits länger zurückliegt. Dies kann noch im Rahmen des Strafverfahrens der Fall sein. Die Beauftragung erfolgt üblicherweise durch die Staatsanwaltschaft. Deren Interesse liegt darin, den Schuldigen zu ermitteln und zur Verantwortung zu ziehen. Dem Beschuldigten muss sein Fehlverhalten eindeutig nachgewiesen werden. Dies bedeutet für den Sachverständigen, dass er sämtliche Unwägbarkeiten zugunsten des Beschuldigten annimmt und sein Gutachten dementsprechend abfasst. Im Rahmen des Strafverfahrens kann darauf verzichtet werden, den Ereignisbereich nach oben abzugrenzen, d.h., die Betrachtungen mit Annahmen zugunsten der Geschädigten durchzuführen.
Rz. 48
Praxistipp
Für den Juristen bedeutet dies, dass ein Gutachten im Strafprozess i.d.R. ganz andere Vorgaben als im Zivilverfahren als Grundlagen hat und daher eine uneingeschränkte Verwertung nach § 411a ZPO genau zu prüfen ist.
2. Das Unfallrekonstruktionsgutachten im Zivilprozess
Rz. 49
Der Sachverständige kann auch erst in einem Zivilverfahren hinzugezogen werden. Seine Befugnisse werden dabei durch einen konkreten Gutachtenauftrag, der in einem Beweisbeschluss formuliert wird, beschränkt. D.h., dem Sachverständigen ist es nicht erlaubt, in dieser Phase eigenständige Ermittlungen durchzuführen. Er kann nur auf das Material zurückgreifen, das von den Prozessparteien als Beweismittel beantragt wird. Üblicherweise wird ihm ein größerer Spielraum dadurch eingeräumt, dass durch das Gutachten der gesamte Unfallhergang geklärt werden soll und ihm erlaubt wird, eigenständig Material von den Prozessparteien anzufordern.
Rz. 50
Im Rahmen eines Zivilprozesses muss der gesamte Ereignisbereich eingegrenzt werden. D.h., es müssen Grenzbetrachtungen in der Art durchgeführt werden, dass die Annahmen sowohl zugunsten als auch zuungunsten beider Prozessparteien getroffen werden. Nur dadurch ist gewährleistet, dass die Begutachtung objektiv erfolgt. Deshalb darf der Sachverständige das Unfallgeschehen und hier insbesondere die Aussagen von Parteien oder Zeugen auch nicht direkt bewerten.
Rz. 51
Die Begutachtung soll die Entscheidungsfindung unterstützen. Das Gutachten unterliegt aber der freien Würdigung durch das Gericht.
3. Umfang und Aufgabenstellung eines Parteigutachtens
Rz. 52
Der Sachverständige kann auch direkt von Unfallbeteiligten, Versicherungen oder Angehörigen mit einem Gutachtenauftrag versehen werden. Der Auftraggeber verfolgt dabei das Ziel, den Rechtsstreit in seinem Sinne zu entscheiden. Dementsprechend steht es dem Sachverständigen frei, nur Betrachtungen zugunsten seines Auftraggebers durchzuführen. Auch in diesem Fall muss er aber seine Begutachtung nach bestem Wissen und Gewissen durchführen. Eine einseitige Begutachtung birgt die Gefahr der Parteilichkeit.
4. Wichtige Arbeitsschritte bei allen Gutachten
Rz. 53
Wenn der Sachverständige den Gutachtenauftrag erhalten hat, verläuft die Ausarbeitung unabhängig von der konkreten Aufgabenstellung nach den gleichen Grundsätzen. Es wird das zur Verfügung stehende Material auf die darin enthaltenen Anknüpfungspunkte für die Rekonstruktion des Unfallgeschehens geprüft.
Rz. 54
Das umfangreichste Material steht n...