Dr. Michael Nugel, Dipl.-Ing. André Schrickel
Rz. 62
Der Sachverständige macht grundsätzlich Aussagen über Vorgänge, an denen er nicht beteiligt war und die er nicht gesehen hat. Diese Vorgänge analysiert er mit wissenschaftlichen Methoden. Dabei ist zu beachten, dass technische Gutachten grundsätzlich sichere Ergebnisse hervorbringen können. Hierfür ist es erforderlich, sämtliche möglichen Rahmenbedingungen in die Betrachtung mit einzubeziehen und den überhaupt möglichen Ereignisbereich sicher abzugrenzen. In einem technischen Gutachten sollten deshalb immer Grenzbetrachtungen durchgeführt werden. Sämtliche möglichen Ergebnisse müssen immer zwischen diesen Grenzen liegen. Wie eng die Grenzen gesteckt werden können, hängt davon ab, wie tief in die Problematik eingedrungen wurde und welche Anknüpfungspunkte zur Verfügung standen. Diese Vorgehensweise ermöglicht auch eine praktikable Bewertung eines Sachverständigengutachtens, wobei extrem unwahrscheinliche Ereignisse unberücksichtigt bleiben.
Rz. 63
Für die Entscheidung eines Rechtsstreites ist sicherlich der Sachverständige am hilfreichsten, der ein eindeutiges Ergebnis liefert. Allerdings sollte eine eindeutige Aussage – vor allem wenn sie mit dem "gesunden Menschenverstand" nicht zwanglos zu vereinbaren ist – umfassend belegt und begründet werden.
Rz. 64
Ein Sachverständiger, der alle erdenklichen Möglichkeiten berücksichtigt, formuliert im Grunde unangreifbar, weil er auch die geringsten Wahrscheinlichkeiten in seine Betrachtungen mit einbezieht. Dies kann aus Unsicherheiten der Anknüpfungspunkte oder aber der Art der Ausarbeitung resultieren. Die Aussagen eines solchen Gutachtens sind für die Entscheidung eines Rechtsstreites sicher am wenigsten hilfreich.
Rz. 65
Um klare Aussagen zu treffen, kann ein Sachverständiger seine Analyse auf die Beobachtungen anderer (Akten, Literatur, Studien) stützen. Er führt in der Regel Berechnungen zur Bestimmung fehlender Größen durch. Er kann diese Ergebnisse durch Vergleichsversuche weiter erhärten. Dabei dienen seine Berechnungsergebnisse dann als Eingabegrößen. Ein Vorgang, der in der Vergangenheit stattfand, kann damit quasi in die Gegenwart übertragen werden. Lassen sich damit Auswirkungen wie bei dem Unfall- oder Schadenereignis reproduzieren, erhöht dies die Sicherheit einer Begutachtung. Ein Sachverständiger sollte sich dies immer vor Augen halten. Auch wenn nicht möglich ist, für jeden Einzelfall extra Versuche durchzuführen, kann er auf bereits vorhandene zurückgreifen, die z.B. auch in Datenbanken im Internet verfügbar sind.
Werden die Ergebnisse anschaulich und verständlich präsentiert, ist es auch dem technischen Laien möglich, die Aussagen mit eigenen Erfahrungen und Kenntnissen abzugleichen. Anhand des für die Ausarbeitung des Gutachtens erkennbaren Aufwands lässt sich auch abschätzen, wie wahrscheinlich Abweichungen von den Untersuchungsergebnissen sind. Damit kann auch entschieden werden, ob diese Eventualitäten für die Gesamtbeurteilung überhaupt relevant sind.
Rz. 66
Der gravierendste Fehler eines Sachverständigen ist wohl der, dass er nicht alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten ausschöpft und einfach Behauptungen aufstellt, die er nicht belegen kann. Sein Eifer darf sich dabei aber gleichzeitig nur auf Fragestellungen erstrecken, die ihm konkret vorgegeben wurden.