Dr. Michael Nugel, Dipl.-Ing. André Schrickel
Rz. 67
Für die Rekonstruktion eines Unfallgeschehens ist es in der Regel unerlässlich, Berechnungen durchzuführen, um die eingehaltenen Geschwindigkeiten zu bestimmen. Hierfür stehen die unterschiedlichsten Anknüpfungspunkte zur Verfügung. Selbst wenn im Idealfall Datenaufzeichnungen aus Tachographen, Steuergeräten oder ähnlichem vorliegen, sind diese Daten toleranzbehaftet. Dies trifft in noch größerem Maße auf die Angabe von Messergebnissen in Unfallskizzen zu. Selbst wenn ein sogenanntes Monobildverfahren (Kombination aus Fotodokumentation und Messen) zur Anwendung kam, lassen sich Spuren und Endlagen niemals vollkommen exakt sichern. Da sämtliche Berechnungen in einem Sachverständigengutachten auf solchen Daten beruhen, ist es natürlich, dass auch die Ergebnisse mit Toleranzen behaftet sind. Die Angabe von eindeutigen Geschwindigkeiten, möglicherweise sogar noch mit Nachkommastellen, suggeriert eine Genauigkeit, die im Rahmen der Unfallrekonstruktion niemals gewährleistet werden kann. Es ist ja keine Willkür, dass selbst bei standardisierten Messverfahren die dabei gemessenen Geschwindigkeiten mit Verkehrsfehlergrenzen von 3 % toleriert werden.
1. Anknüpfungstatsachen
Rz. 68
Die Anknüpfungspunkte bilden die wichtigste Grundlage für das Ergebnis eines Gutachtens. Wird ein Sachverständiger direkt zur Unfallaufnahme hinzugezogen, bieten sich ihm die idealen Voraussetzungen, diese Anknüpfungspunkte in vollem Umfang und in hoher Qualität zu sichern. Versäumnisse in dieser Phase können nachträglich nicht mehr korrigiert werden. Ausnahmen bilden allerdings die örtlichen Gegebenheiten und Fahrzeuge, die von Beteiligten bis zur Entscheidung des Rechtsstreits im beschädigten Zustand aufbewahrt werden. Hier kann eine Nachbesichtigung auch nach längerer Zeit erfolgen. Dies erfordert höheren Aufwand, ist aber immer dann sinnvoll, wenn aus der vorliegenden Dokumentation nicht die nötigen Informationen hervorgehen. Bei der Zuordnung von Schäden aus Kleinkollisionen kommt es auch auf kleinste Details an. Diese können in einer Fotodokumentation möglicherweise nicht enthalten sein, weil z.B. die Bilddateien zur Einsparung von Speicherressourcen kleingerechnet wurden und in der Originalauflösung nicht mehr vorliegen.
Rz. 69
Zusätzlich ist zu beachten, dass bei der Dokumentation von Schäden die Fahrzeuge in den seltensten Fällen mit einem Maßstab fotografiert werden. Die höhenmäßige Zuordnung der Schäden kann dann nur mit Vergleichsfahrzeugen durchgeführt werden. Stehen die Unfallfahrzeuge noch zur Verfügung, sollte die Möglichkeit genutzt werden, die Schadenzuordnung anhand dieser Fahrzeuge vorzunehmen. In diesem Fall erübrigen sich Diskussionen über die Genauigkeit.
Rz. 70
Bei der Höhenzuordnung sind auch die Beladungszustände zu berücksichtigen. Wie die folgenden Lichtbilder zeigen, macht es einen deutlichen Unterschied, ob ein Pkw leer ist oder eine 500 kg Last im Kofferraum transportiert.
Abb. 12.5: Beladungszustand leer
Beladungszustand 500 kg
Auch aus den örtlichen Gegebenheiten ergeben sich Unterschiede. Durch eine Ortsbesichtigung ist deshalb zu klären, ob z.B. der Untergrund über Unebenheiten verfügt oder eine Bordsteinkante vorhanden ist.
2. Erfordernis der Nachbesichtigung
Rz. 71
Aber auch bei heftigen Kollisionen ist eine Nachbesichtigung der Unfallstelle und der Fahrzeuge sinnvoll. Bei einer Gegenverkehrskollision mit hoher Relativgeschwindigkeit entstehen in den überwiegenden Fällen sogenannte Schlagmarken. Diese werden dadurch hervorgerufen, dass Teile des Unterbodens infolge der hohen Kollisionskräfte auf die Fahrbahn gepresst werden. Lassen sich die betreffenden Bauteile bestimmen, kann der Kollisionsort genau rekonstruiert und die bei einer solchen Kollision wichtigste Frage, wer seine Fahrspur verlassen hatte, geklärt werden.
Abb. 12.7 bis 12.9: Schlagspuren
Rz. 72
Bei Kollisionen mit geringer Überdeckung bewegen sich die Fahrzeuge aneinander vorbei, wenn es zu einem Abgleiten kommt. Dabei lässt sich öfter beobachten, dass mehrere Schlagspuren an völlig unterschiedlichen Stellen auf der Fahrbahn entstehen können. Die Bestimmung des Kollisionsortes wird dadurch erschwert.
Abb. 12.10 bis 12.12: Bestimmung des Kollisionsortes
© Abb. 12.10 (links) und Abb. 12.11 (rechts oben) Bild aus der Ermittlungsakte
© Abb. 12.12 (rechts unten) Aufnahme einer Partei
Rz. 73
Auch wenn heutzutage hoch auflösende Luftbilder von den Unfallstellen vorliegen, kann auf Ortsbesichtigungen nicht in jedem Fall verzichtet werden. Dies ist insbesondere dann gegeben, wenn an der Unfallstelle Gefällestrecken vorhanden sind. Die Neigung der Fahrbahn hat Auswirkungen auf die möglichen Bremsverzögerungen. Sie wirkt sich somit auf die Bestimmung der Geschwindigkeit aus. Aus den Neigungen ergeben sich möglicherweise auch Sichtproblematiken, die nur vor Ort geklärt werden können.
Rz. 74
Bei der Bestimmung der Sichtmöglichkeiten vor Ort ist darauf zu achten, dass die für die Unfallbeteiligten korrekte Sichthöhe berücksichtigt wird. Ein Lkw-Fahrer sitzt mit seinen Augen weit oberhalb der Fahrbahn. Dies ist bei der ...