Rz. 39
Der Begriff Verkehrssicherungspflicht (oder "Verkehrspflicht") hat seinen Ursprung im zivilrechtlichen Deliktsrecht. Ausgangspunkt ist die Haftungsfrage in solchen Fällen, in denen ein Sach- oder Personenschaden eintritt, der nicht auf einer unmittelbaren Verletzungshandlung beruhte (sonst würde der Handelnde ohne weiteres nach § 823 Abs. 1 BGB haften). Haftet jeder, der den Schaden hätte verhindern können? Das ginge zu weit. Die Begrenzung der sonst uferlosen Haftung geschieht über die Konstruktion der Verkehrspflichten: Eine Schadensersatzpflicht trifft nur denjenigen, der eine Verkehrspflicht verletzte und dadurch den Schaden mittelbar herbeiführte. Gegenstand der Verkehrspflichten ist die Kontrolle von Gefahrenquellen: Wer eine Gefahrenquelle schafft oder dafür verantwortlich ist, muss Schutzvorkehrungen treffen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend hält, damit sich die Gefahr nicht zum Schaden anderer auswirkt. Und da ein Grundstück und/oder ein Gebäude Gefahrenquellen darstellen, sind alle Pflichten, die darauf abzielen, davon ausgehende Gefahren zu vermeiden, Verkehrspflichten. Eine zusammenfassende Umschreibung dieser Pflichten findet sich in § 12 der Betriebssicherungsverordnung: demnach hat der Betreiber einer überwachungsbedürftigen Anlage diese in einem ordnungsgemäßen Zustand zu erhalten, zu überwachen und notwendige Instandsetzungen und Wartungsarbeiten unverzüglich vorzunehmen sowie die erforderlichen Sicherheitsmaßnahmen zu treffen. Es gibt viele spezielle gebäudebezogene Verkehrssicherungspflichten. Diese sind leider nicht etwa in einem gesonderten Gesetzbuch oder Paragrafen aufgelistet; nur die Haftung für herabfallende Gebäudeteile gem. §§ 836–838 BGB ist ein gesetzlich normierter spezieller Fall der gebäudebezogenen Verkehrssicherungspflicht. Im Übrigen kommen als Rechtsquellen der Verkehrssicherungspflichten vor allem öffentlich-rechtliche Bestimmungen in Betracht (z.B. § 22 BImschG, Trinkwasserverordnung, Landesbauordnungen, Garagenverordnungen, Betriebssicherheitsverordnung), aber auch Normwerke privater Fachverbände wie z.B. die DIN, VDE- und VDI-Richtlinien und die Unfallverhütungsvorschriften (GUV) der Unfallversicherungsträger. Wenn keine speziellen gebäudebezogenen Verkehrspflichten bestehen, greift die Rechtsprechung auf die "allgemeine" Verkehrssicherungspflicht zurück, die sie dann je nach Einzelfall mit konkretem Inhalt füllt. Die Gesamtheit der gebäudebezogenen Verkehrspflichten wird gelegentlich als "Betreiberverantwortung" im "Facilitymanagement" bezeichnet. Nachfolgend einige konkrete Anwendungsfälle:
Rz. 40
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Installation und Kontrolle von Rauchwarnmeldern. |
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Wartung von Aufzügen und Heizungsanlagen. |
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Kontrolle des Zustands von Dach- und Notüberläufen sowie von Dachrinnen und Regenwasserfallleitungen alle sechs Monate, insbesondere im Herbst gemäß DIN 1986–3. Die Durchführung dieser Kontrollen ist auch zur Abwendung der andernfalls bestehenden Gefahr der deliktischen Haftung für herabfallende Bauteile gem. §§ 836, 838 BGB erforderlich. Der Verwalter muss nämlich alle aus technischer Sicht gebotenen Maßnahmen treffen, um die Gefahr einer Ablösung von Dachteilen nach Möglichkeit rechtzeitig zu erkennen und ihr zu begegnen; dies gilt umso mehr, je älter das Gebäude und seine Dachkonstruktion ist. |
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Kontrolle der Spielgeräte eines Kinderspielplatzes. |
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Kontrolle und Rückschnitt von Bäumen. |
Rz. 41
In Bezug auf das Gemeinschaftseigentum ist die Gemeinschaft "Trägerin der Verkehrssicherungspflicht", also zur Erfüllung der Verkehrssicherungspflichten bzw. zum Schadensersatz verpflichtet, wenn es zu einer Verletzung einer Verkehrssicherungspflicht kam. Anders nur im Fall von Sondernutzungsflächen: Wer das Sondernutzungsrecht nebst Erhaltungslast an Flächen und Wegen hat, trägt auch ohne ausdrückliche Regelung in der Gemeinschaftsordnung die (ausschließliche) Verkehrssicherungspflicht. Abgesehen vom Sonderfall der Sondernutzungsflächen sind die Wohnungseigentümer in puncto Verkehrssicherung weder zuständig noch haftbar. Zumindest ersteres hat der BGH schon zum alten Recht entschieden: "Die Erfüllung der Verkehrssicherungspflichten hat jedenfalls in dem für die Beschlusskompetenz maßgeblichen Innenverhältnis der Wohnungseigentümer … nicht der einzelne Eigentümer, sondern der Verband sicherzustellen". Daraus folgt m.E. zwangsläufig, dass die Verkehrssicherungspflicht auch im Außenverhältnis (ausschließlich) beim Verband liegt, folglich die einzelnen Wohnungseigentümer nicht in Anspruch genommen werden können; die dogmatische Durchdringung ist allerdings noch nicht abgeschlossen. Anspruchsberechtigt sind im Schadensfall sowohl außenstehende Dritte als auch die Wohnungseigentümer.
Rz. 42
Damit Gebäude, Wege, Bäume und Spielplätze nicht zur Gefahrenquelle werden, muss ihr baulicher und technischer Zustand regelmäßig überprüft werden. Umfang und Intervalle sind teilweise in speziell...