Dr. iur. Nikolas Hölscher
1. Allgemeines
Rz. 29
Der ordentliche Pflichtteilsanspruch und der Pflichtteilsergänzungsanspruch sind zwei selbstständige und voneinander unabhängige Ansprüche. Der Pflichtteilsberechtigte des ordentlichen Pflichtteilsanspruchs ist i.d.R. auch Gläubiger des Pflichtteilsergänzungsanspruchs. Voraussetzung für die Pflichtteilsergänzungsberechtigung ist aber nicht, dass dem Berechtigten auch tatsächlich ein ordentlicher Pflichtteilsanspruch zusteht. Maßgeblich ist vielmehr, dass er im konkreten Erbfall zum Kreis der pflichtteilsberechtigten Personen gehört. Wie sich aus § 2326 S. 1 BGB ergibt, kann der Pflichtteilsberechtigte einen Ergänzungsanspruch auch dann verlangen, wenn er unter den genannten Voraussetzungen einen ihm hinterlassenen Erbteil annimmt.
Rz. 30
Ein Anspruch auf Pflichtteilsergänzung kann daher auch dann bestehen, wenn der Pflichtteilsberechtigte nicht durch Verfügung von Todes wegen von der Erbfolge ausgeschlossen wurde. Voraussetzung eines Pflichtteilsergänzungsanspruchs ist nicht das Vorliegen einer letztwilligen Verfügung, die einen ordentlichen Pflichtteilsanspruch nach § 2303 BGB begründet. Es ist daher zwischen Pflichtteilsberechtigung und tatsächlichem Pflichtteilsanspruch zu unterscheiden. So behält der Pflichtteilsberechtigte, der eine Erbschaft ausschlägt, den Anspruch auf den Zusatzpflichtteil nach § 2305 BGB ebenso wie der ergänzungsberechtigte Erbe bei Nichtausschlagung der Erbschaft seinen Ergänzungsanspruch. Der ergänzungspflichtige Erbe hat sich lediglich nach § 2326 S. 2 BGB den "Mehrwert" (des Erbteils) auf den Ergänzungsanspruch anrechnen zu lassen. Zur Berechnung des Pflichtteilsergänzungsanspruchs unter Berücksichtigung des § 2326 BGB siehe ausführlich § 7 Rdn 198 ff.
2. Doppelberechtigung des Ergänzungsberechtigten
Rz. 31
Auf der anderen Seite folgte hieraus bisher nicht, dass der Personenkreis der Berechtigten des ordentlichen Pflichtteilsanspruchs und des Pflichtteilsergänzungsanspruchs immer übereinstimmen mussten. Nach früherer Rechtsprechung des BGH war ein an sich Pflichtteilsberechtigter nur dann auch Gläubiger eines Pflichtteilsergänzungsanspruchs, wenn er zum Zeitpunkt der Schenkung, der für den Pflichtteilsergänzungsanspruch maßgeblich ist, auch schon zum Kreis der pflichtteilsberechtigten Personen gehört hat (sog. Doppelberechtigung). Mit Urteil vom 23.5.2012 entschied der BGH unter Aufgabe seiner bisherigen Rechtsprechung zur Theorie der Doppelberechtigung, dass Voraussetzung für das Bestehen eines Pflichtteilsergänzungsanspruchs nicht ist, dass die Pflichtteilsberechtigung bereits im Zeitpunkt der Schenkung bestand. Zur Begründung beruft sich der BGH zum einen auf den Wortlaut und zum anderen auf die Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Gegen die Theorie der Doppelberechtigung spreche der Sinn und Zweck des Pflichtteilsrechts, die Mindestteilhabe naher Angehöriger am Vermögen des Erblassers sicherzustellen. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob der im Erbfall Pflichtteilsberechtigte auch schon im Zeitpunkt der Schenkung pflichtteilsberechtigt war. Bei Aufrechterhaltung der bisherigen Rechtsprechung würde es zu einer Ungleichbehandlung von Abkömmlingen des Erblassers kommen. Das Bestehen eines Pflichtteilsergänzungsanspruchs wäre im Ergebnis vom Zufall abhängig. Vor dieser Entscheidung des BGH stand z.B. Kindern des Erblassers ein Pflichtteilsergänzungsanspruch nicht zu, wenn sie vom Erblasser erst nach einer für den Pflichtteilsergänzungsanspruch relevanten Schenkung adoptiert wurden. Gleiches galt für diejenigen Kinder, die erst nach der den Pflichtteilsergänzungsanspruch auslösenden Schenkung geboren wurden.
Rz. 32
Unklar ist, ob die Aufgabe der Lehre von der Doppelberechtigung auch für den Pflichtteilsergänzungsanspruch des Ehegatten keine Geltung mehr beansprucht. Die wohl h.M. bejaht dies. Hiergegen wird eingewandt, der BGH habe in seiner Entscheidung vermieden, die Konstellation des pflichtteilsberechtigten Ehegatten zu erwähnen und die Erwägungen des Senats seien nicht ohne weiteres auf Ehegattenkonstellationen übertragbar.