Rz. 28

Neuregelung zum 5.12.2014 nur eine Klarstellung, die bei Inkrafttreten des neuen Punktsystems schon bestanden hat?

Wie oben dargestellt, ist für die Maßnahmen nach dem Punktsystem der Punktestand maßgeblich, der sich nach den der Behörde im Zeitpunkt des Treffens der Maßnahme bekannten Zuwiderhandlungen ergibt. Verwarnt die Behörde einen Führerscheininhaber beim Stand von 7 Punkten im Zeitpunkt der Maßnahme und wird dem Amt danach eine weitere Zuwiderhandlung bekannt, die mit 1 Punkt belegt ist, so ist die weitere mit 1 Punkt belegte Auffälligkeit nicht von der Verwarnung erfasst (§ 4 Abs. 5 S. 6 und § 4 Abs. 6 S. 4 StVG in der ab 5.12.2014 geltenden Fassung). Mit dieser Gesetzesänderung wollte der Gesetzgeber ausdrücklich insoweit vom Tattagprinzip abrücken und auf das Bekanntwerden der Taten bei der Behörde abstellen.[35] Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers soll das Maßnahmensystem keine Warn- und Erziehungsfunktion wie zuvor haben, sondern ist auf eine bloße Hinweisfunktion beschränkt.[36] Nach der zum früheren Punktsystem geltenden Rechtsauffassung des reinen Tattagprinzips waren im Zeitpunkt der Maßnahme begangene Taten auch bei Unkenntnis der Behörde von der Maßnahme umfasst.[37]

 

Rz. 29

 

Beispiel

Am 27.1.2015 wird ein Führerscheininhaber nach dem Erreichen von 6 Punkten verwarnt, da er am 10.11.2014 einen Geschwindigkeitsverstoß begangen habe. Bereits am 21.5.2014 hatte der Betreffende eine Körperverletzung im Straßenverkehr begangen. Die entsprechende strafrechtliche Verurteilung wurde am 19.1.2015 rechtskräftig und am 5.3.2015 mit zwei Punkten im FER gespeichert. Durch die Neuregelung des § 4 Abs. 6 StVG soll das Tattagprinzip im Rahmen der Bonusregelung keine Geltung beanspruchen. Der Führerscheininhaber in diesem Beispielfall hat also mit Begehung der beiden letzten Zuwiderhandlungen 8 Punkte erreicht. Die zweite Stufe des Punktsystems (Verwarnung) gilt trotz der erst später bekannt gewordenen strafrechtlichen Verurteilung – und das rückwirkend, da die Straftat vor Inkrafttreten der Änderung von § 4 Abs. 6 StVG zum 5.12.2014 begangen wurde, aber nicht in den Punktestand bei der Verwarnung wegen der späteren Tat (aber früher als die Straftat bekannt gewordenen Tat) eingerechnet wird. Das ist eine unechte Rückwirkung, die aber zulässig sein soll. Denn ein schutzwürdiges Vertrauen auf den punktemäßig folgenlosen Fortbestand der früheren Rechtslage gibt es nicht.[38]

 

Rz. 30

Diese Verschärfung des Tattagprinzips, die zusätzlich zum Tattag nur die der Behörde bei Ergreifen einer Maßnahme bekannten Zuwiderhandlungen von der Wirkung der Maßnahme umfasst, wurde mit dem Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 28.11.2014[39] eingeführt. Die in den Gesetzgebungsmaterialien angegebene bloße Klarstellungsfunktion dieser Regelung[40] trifft nicht zu. Denn weder dem Wortlaut der Regelung der Neufassung des Punktsystems mit Wirkung zum 1.5.2014 noch den Gesetzgebungsmaterialien zur Neufassung des Punktsystems[41] lässt sich entnehmen, dass das Tattagprinzip mit der Maßgabe gelten soll, dass nur die im Zeitpunkt des Ergreifens einer Maßnahme der Behörde bekannt gewordenen Zuwiderhandlungen von der Wirkung der Maßnahme erfasst werden. Daher kann die Modifizierung erst mit dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes vom 28.11.2014 am 5.12.2014 Wirkung entfalten.[42] Die gegenteilige Auffassung, dass das durch die Kenntnis der Behörde eingeschränkte Tattagprinzip bereits mit der Neufassung des Punktsystems zum 1.5.2014 beabsichtigt sein sollte,[43] ist daher abzulehnen.

Hier stellt sich zum einen die Frage, ob diese Verschärfung als solche verfassungsrechtlichen Grenzen begegnet. Das ist jedoch nicht der Fall, da sich kein schützenswertes Vertrauen auf den Fortbestand der alten Regelung bilden kann, da der Verkehrssicherheit überragende Bedeutung für das Gemeinwohl zukommt. Änderungen zum weitergehenden Schutz der Verkehrssicherheit sind daher zulässig.[44] Wie bereits erwähnt, ist die Auffassung abzulehnen, dass das durch die Kenntnis der Behörde modifizierte Tattagprinzip bereits mit Wirkung zum 1.5.2014 in Kraft getreten ist.[45] Entsprechende Erwägungen, dass eine solche "unechte" Rückwirkung (oder tatbestandliche Rückanknüpfung) bereits zum 1.5.2014 zulässig sein könnte, sind daher nicht maßgeblich. Das gilt auch mit Blick darauf, dass eine unechte Rückwirkung unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten relativ weitgehend zugelassen wird.[46]

[35] SächsOVG, Beschl. v. 7.7.2015 – 3 B 118/15, LKV 2015, 468, juris Rn 13.
[36] So ausdrücklich: BT-Drucks 18/2775, S. 9 f.
[37] So BVerwG, Urt. v. 25.9.2008 – 3 C 3.07, juris Rn 13; VGH BW, Beschl. v. 14.2.2013 – 10 S 82/13, juris Rn 6.
[38] Beispiel nach VGH BW, Beschl. v. 6.8.2015 – 10 S 1176/15, NZV 2016, 198
[39] Gesetz zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes, der Gewerbeordnung und des Bundeszentralregistergesetzes vom 28.11.2014, BGBl I S. 1802.
[40] BT-Drucks 18/2775, S. 9 f.
[41] BR-Drucks 799/12, S. 78 f.
[42] So auch: OVG NRW,...

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