Rz. 98
Die Umsetzung der EWG-Rechtsschutzversicherungs-Richtlinie führte im Jahre 1990 u.a. zu § 127 VVG (seinerzeit § 158m VVG a.F.), der zugunsten des Versicherungsnehmers halb zwingendes Recht darstellt (§ 129 VVG). Mit dieser Bestimmung erhält der für den Versicherungsnehmer so wichtige Grundsatz der freien Rechtsanwaltswahl in der Rechtsschutzversicherung Gesetzescharakter. Im Rahmen der Reform des VVG 2008 hat sich der Gesetzgeber bewusst für eine uneingeschränkte Beibehaltung und gegen den Vorschlag der VVG-Kommission entschieden, für Sammelverfahren eine Beschränkung der freien Anwaltswahl zu ermöglichen. § 127 VVG begründet den Grundsatz der freien Anwaltswahl für Gerichts- und Verwaltungsverfahren (S. 1) und – wenn auch unsystematisch – für die "sonstigen Angelegenheiten" (S. 2). Diese Bestimmung enthält eine scheinbare Einschränkung des Grundsatzes. Das Auswahlrecht des Versicherungsnehmers bezieht sich nämlich danach nur auf die Rechtsanwälte, deren Vergütung der Versicherer nach dem Versicherungsvertrag trägt. Diese Formulierung bedeutet aber – richtlinienkonform ausgelegt – nicht, dass der Rechtsschutzversicherer berechtigt sei, den Kreis der Rechtsanwälte, aus denen der Versicherungsnehmer auswählen darf, von vornherein auf die Rechtsanwälte zu beschränken, deren Vergütung er übernehmen will. Die Bedeutung der erwähnten Formulierung besteht darin, dass den Rechtsschutzversicherern in den ARB Regelungen erlaubt sein müssen, die ihre Vergütungspflicht beschränken, etwa auf die gesetzliche Vergütung eines am Ort des zuständigen Gerichts ansässigen Rechtsanwaltes (§ 5 Abs. 1 a S. 1 ARB). Der Grundsatz der freien Rechtsanwaltswahl findet sich auch in den ARB (§ 16 Abs. 1 S. 1 ARB 75; § 17 Abs. 1 ARB 94/2000/2008/2010; Nr. 4.1.3 S. 1 ARB 2012).
Rz. 99
Die ARB gehen in § 17 Abs. 1 S. 1 davon aus, dass der Versicherungsnehmer seinen Rechtsanwalt selbst auswählt. Dieses wichtige Recht des Versicherungsnehmers nützt ihm aber nichts, wenn er davon keinen Gebrauch macht, obwohl dies geboten wäre. Deshalb sehen § 17 Abs. 1 S. 2 ARB bzw. Nr. 4.1.3 S. 2 ARB 2012 vor, dass der Rechtsschutzversicherer unter bestimmten Voraussetzungen den Rechtsanwalt für den Versicherungsnehmer auszuwählen hat. Es handelt sich dabei um folgende Fälle:
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wenn der Versicherungsnehmer dies verlangt (§ 17 Abs. 1 S. 2 a ARB) oder |
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wenn der Versicherungsnehmer keinen Rechtsanwalt benennt und dem Versicherer die alsbaldige Beauftragung eines Rechtsanwaltes notwendig erscheint (§ 17 Abs. 1 S. 2 b ARB). |
Rz. 100
In der Praxis gehen die Rechtsschutzversicherer zunehmend dazu über, die freie Anwaltswahl zwar rechtlich unberührt zu lassen, jedoch ihren Versicherungsnehmern wirtschaftliche Vorteile zu gewähren, wenn sie einen Vertrauensanwalt des Rechtsschutzversicherers beauftragen, so z.B. durch Verzicht auf die Selbstbeteiligung oder die Nichtberücksichtigung des Schadenfalls im Rahmen eines Schadenfreiheitsrabattsystems. Bisher sind solche Vergünstigungen in einem beschränkten Umfang von der Rechtsprechung und der Literatur als zulässig bewertet worden. Jüngst hat der BGH höchstrichterlich entschieden, dass die durch §§ 127, 129 VVG, § 3 Abs. 3 BRAO gewährleistete freie Anwaltswahl finanziellen Anreizen eines Versicherers in Bezug auf eine Anwaltsempfehlung nicht entgegensteht, wenn die Entscheidung über die Auswahl des Rechtsanwalts beim Versicherungsnehmer liegt und die Grenze des unzulässigen psychischen Drucks nicht überschritten wird. Im dortigen Fall wurde ein Schadenfreiheitssystem der HUK-Coburg-Rechtsschutzversicherung mit variabler Selbstbeteiligung und einem konkreten Vorteil bei Beauftragung eines Vertrauensanwalts hinsichtlich der Höhe der Selbstbeteiligung in einem künftigen Schadenfall gebilligt. Der wirtschaftliche Anreiz liegt für die Rechtsschutzversicherer vor allem darin, dass mit den Kooperationsanwälten Gebührenvereinbarungen geschlossen werden, nach denen (zum Teil nicht unerheblich) niedrigere Gebühren gegenüber dem RVG vereinbart werden. Diese Praxis führt zu zunehmend höheren Quoten der durch die Rechtsschutzversicherer aktiv an "ihre" Kooperationsanwälte gesteuerten Rechtsschutzfälle und damit jedenfalls zu einer faktischen Einschränkung der freien Anwaltswahl.
Rz. 101
Wählt der Versicherungsnehmer selbst den Rechtsanwalt aus und beauftragt er ihn, trifft ihn keine Obliegenheit, dies dem Rechtsschutzversicherer unverzüglich anzuzeigen. Dagegen sieht § 16 Abs. 3 S. 1 ARB 75 eine solche Anzeigeobliegenheit des Versicherungsnehmers vor. Nr. 4.1.1.3 ARB 2012 regelt demgegenüber sogar eine Abstimmungspflicht mit dem Rechtsschutzversicherer vor Beauftragung eines Rechtsanwalts.
In keinem Fall kommt zwischen dem Rechtsschutzversicherer und dem Rechtsanwalt des Versicherungsnehmers ein Vertrag zustande. Der Rechtsschutzversicherer handelt bei Beauftragung des Rechtsanwaltes immer im Namen des Versicherungsnehmers (§ 17 Abs. 2 S. 1 ARB; Nr. 4.1.3 S. 3 ARB 2012; § 16 Abs. 2 ARB 75)....