Frank-Michael Goebel, Regine Förger
Rz. 356
Ob in der konkreten Verfahrenssituation tatsächlich ein Vergleichsabschluss in Betracht kommt, muss an unterschiedlichen Kriterien gemessen und dann entschieden werden.
Rz. 357
Wesentlich ist zunächst die Beurteilung der Sach- und Rechtslage aus Sicht der vertretenen Partei und der bei dieser liegenden Darlegungs- und Beweislast.
Rz. 358
Dabei wird der Bevollmächtigte schon bei der Klageerhebung oder bei der Konzeption der Klageerwiderung den Mandanten die Sach- und Rechtslage und die sich daraus ergebende Prozessrisiken zu erörtern haben. Hierzu gehört insbesondere die Erörterung der Gesichtspunkte, welche durch die konkrete Partei darzustellen und im Fall des Bestreitens nachzuweisen sind.
Rz. 359
Hinweis
Diese Beurteilung muss "ungeschönt" erfolgen. Der Rechtsanwalt muss dabei insbesondere nicht nur bedenken, ob überhaupt ein Beweismittel zur Verfügung steht, sondern auch, ob dieses geeignet ist, den Beweis zu erbringen, d.h. eine richterliche Überzeugung im Sinne der Partei herzustellen. Immer muss die Frage im Raum stehen: "Wie würde ich vorgehen, wenn ich anstelle des Gegners wäre?" In diesem Zusammenhang werden auch die gegebenenfalls der Gegenseite zur Verfügung stehenden Beweismittel zu bewerten sein. Es fällt immer wieder auf, dass dies in der Praxis nicht hinreichend beachtet wird.
Rz. 360
Die so zu beurteilenden Prozessrisiken müssen während des gesamten Verfahrens immer wieder neu bewertet werden, insbesondere wenn Erwiderungen des Gegners vorliegen oder Beweisantritte des Gegners oder Teile einer Beweisaufnahme erfolgt sind.
Rz. 361
Zu berücksichtigen ist, dass das Gericht den Sach- und Streitstand mit den Parteien erörtern soll, insbesondere nach § 278 Abs. 2 ZPO in der Güteverhandlung. Hieraus kann der Bevollmächtigte erkennen, ob das Gericht seine Rechtsauffassung zu teilen scheint und der tatsächliche Vortrag ausreicht, und wenn nicht, ob noch "Darlegungsreserven" bestehen.
Rz. 362
Auch richterliche Hinweise gem. § 139 ZPO an die eigene, aber auch die gegnerische Partei müssen in diese Beurteilung miteinbezogen werden. Dabei muss in Rechnung gestellt werden, dass das Gericht von einem einmal erteilten rechtlichen Hinweis selten noch einmal abrückt, ohne dass sich die tatsächlichen Verhältnisse geändert haben. D.h. in die Betrachtung der Prozessrisiken müssen auch die eingeschränkten Möglichkeiten, die Kosten und das Risiko eines Berufungsverfahrens unter Berücksichtigung der eingeschränkten Fehlerkontrolle einbezogen werden.
Rz. 363
Verbleibt ein Prozessrisiko für den Mandanten, muss diesem die Alternative, durch ein streitiges Urteil gänzlich leer auszugehen oder durch eine vergleichsweise Regelung einen Teilerfolg zu erzielen, vor Augen geführt werden.
Rz. 364
Tipp
Unter dem Gesichtspunkt der Abschätzung des Prozessrisikos sollte jede Gelegenheit genutzt werden, mit dem Gericht die Sach- und Rechtslage zu erörtern, um so die Rechtsansichten in der Sache, aber auch die Sichtweise der Darlegungs- und Beweislast und die Bewertung von Teilen der Beweisaufnahme durch das Gericht in Erfahrung zu bringen. Das Gericht sollte zu Hinweisen ermuntert und nicht etwa durch – wenn auch unbegründete – Befangenheitsanträge zu einer restriktiven Handhabung von § 139 ZPO geführt werden. Zugleich sollte das Gespräch mit dem Gericht gezielt gesucht werden. Ggf. sollte das Gericht explizit aufgefordert werden, einen Vergleichsvorschlag zu unterbreiten.
Rz. 365
Aus den vorstehenden Ausführungen ergibt sich zugleich, dass bei einem Rechtsstreit über unterschiedliche Fragen sich für jede einzelne Frage das Prozesskostenrisiko anders beurteilen lassen kann und dies auch in eine Gesamtkonzeption des Vergleichs einfließen kann.
Rz. 366
Hinweis
Ein empfehlenswerter gerichtlicher Vergleichsvorschlag wird deshalb immer eine Bewertung der Sach- und Rechtslage zum Gegenstand haben, indem der Richter zunächst deutlich macht, welche Rechtsfragen er definitiv zugunsten oder zu Lasten einer Partei zu entscheiden gedenkt. Sodann wird der gerichtliche Vergleichsvorschlag darauf hinweisen, welche Fragen durch Beweisaufnahme zu klären sind. Dabei wird der gerichtliche Vergleichsvorschlag die Darlegungs- und Beweislast, die angebotenen Beweismittel und deren Tauglichkeit zu bewerten haben. Dies geht umso exakter, je besser das Ergebnis einer Beweisaufnahme etwa aufgrund von Aussagen der benannten Zeugen in Ermittlungsakten, prognostiziert werden kann. Auf der Grundlage einer solchen Gesamtbewertung kann ein Vergleich guten Gewissens von dem Bevollmächtigten mit dem Mandanten erörtert und gegebenenfalls in der zu bewertenden weiteren Diskussion mit dem Gericht und dem Gegner modifiziert werden.
Rz. 367
Tipp
Der Bevollmächtigte sollte tunlichst vermeiden, den Richter wegen eines solchen begründeten Vergleichsvorschlages wegen der Besorgnis der Befangenheit nach § 42 ZPO abzulehnen. Ungeachtet der Auffassung, dass ein solcher Befangenheitsantrag unbegründet wäre, ist auch zu berücksichtigen, dass der Bevollmächtigte sich dam...