Rz. 3

Das Themengebiet der Unfallmedizin stellt sich für den Rechtsanwalt zumeist als ein unbekanntes Fachgebiet dar. Wenn der Anwalt in diesem Themengebiet jedoch Kenntnisse erlangt hat, kann er in der Regel für seinen Mandanten deutlich höhere Schadensersatzleistungen aushandeln. Es ist an dieser Stelle nochmals zu betonen, dass Versicherer immer nur dann bereit sind, höhere Schadensersatzleistungen zu erbringen, wenn sie feststellen, dass der gegnerische Anwalt mit ihnen auf gleicher Augenhöhe verhandeln kann. Je detailreicher die Kenntnisse der Anwaltschaft im Bereich der Unfallmedizin sind, desto höher wird das Prozessrisiko des Versicherers.

 

Rz. 4

Allein die kaufmännische Betrachtung kann beim Versicherer schon dazu führen, dass er im Einzelfall höhere Schadensersatzleistungen erbringt, um sich erhebliche Rechtsverfolgungskosten (einschließlich der Kosten für diverse Sachverständigengutachten) zu ersparen. Darüber hinaus hat kein Versicherer Interesse an rechtskräftigen Entscheidungen, die auf Geschädigtenseite Schule machen könnten. Die außergerichtliche Vergleichsbereitschaft wächst enorm, wenn der Anwalt mit Sachkenntnissen aus dem Fachbereich der Unfallmedizin aufwarten und diese gezielt in der Regulierungsverhandlung einbringen kann.

 

Rz. 5

Momentan haben Versicherer gegenüber den meisten Anwälten noch einen erheblichen Wissensvorsprung im Bereich der medizinischen Grundkenntnisse. Versicherer selber müssen sich mit dem Bereich der Unfallmedizin und eventuellen Komplikationen, Spätfolgen oder Risiken beschäftigen, da sie nur so professionell den jeweiligen Fall reservieren können.

 

Rz. 6

Das momentane Ungleichgewicht zugunsten der Versichererseite zeigt sich dann, wenn Seminare zu unfallmedizinischen und versicherungsrechtlichen Themen zu 90 % von Sachbearbeitern aus Großschadensabteilungen und lediglich zu 10 % von der Anwaltschaft gebucht werden.

Es ist daher auch Ziel dieses Kapitels, diese Wissenslücke der Anwälte zu schließen.

 

Rz. 7

Insbesondere das Kapitel "Erläuterung der häufigsten Komplikationen/Spätfolgen/Risiken in der Personenschadensregulierung" (siehe Rdn 231 ff.) ist aus Anwaltssicht von Bedeutung. Denn nur, wenn der Anwalt bei dem zu bearbeitenden Fall und dem entsprechenden Verletzungsbild die Komplikationen, Spätfolgen und eventuellen Risiken kennt, kann er diese auch gegenüber dem Versicherer vortragen.

 

Praxistipp

Dies kann sich für den Mandanten in barer Münze auszahlen, da sich sowohl die Standardschadenspositionen Schmerzensgeld, Haushaltsführungsschaden, Erwerbsschaden als auch vermehrte Bedürfnisse gravierend verändern können, wenn die objektiv vorhersehbaren Komplikationen/Spätfolgen/Risiken bereits von Anfang an in die Bezifferung der Ansprüche eingearbeitet werden. Es ist deshalb zwingend erforderlich, dass der Anwalt sich mit den objektiv vorhersehbaren Verletzungsfolgen bei jedem einzelnen Verletzungsbild auskennt.

 

Rz. 8

Unterschätzte Primärverletzungen und Nichterkennen von Spätfolgen sind ein extrem häufiger Haftungsgrund für Rechtsanwälte. Nicht selten werden auch scheinbar einfache Verletzungen zu schweren Dauerschäden. Insbesondere kommt es immer wieder vor, dass aus einer an sich unproblematischen Schlüsselbeinfraktur ein Dauerschaden dahingehend entsteht, dass der Geschädigte vollständig erwerbsunfähig wird. Wird hier zu früh, ohne Berücksichtigung dieser Risiken, reguliert, entsteht zum einen ein extremer Ausfall beim Geschädigten, zum anderen ein extremes Haftungsrisiko beim Anwalt. Auch eine einfache HWS-Verletzung führt in fünf Prozent der Fälle dazu, dass tatsächlich eine vollständige Erwerbsunfähigkeit aufgrund dieser scheinbar leichten Verletzung eintritt.

 

Hinweis

Daher ist es zwingend erforderlich, sich vor Abschlussregulierung zum einen zu vergewissern, dass tatsächlich ein medizinisch gefestigter Zustand erreicht wurde, zum anderen muss sich der Anwalt durch Rückfrage beim Arzt versichern, dass Zukunftsrisiken angemessen berücksichtigt werden. Unterlässt dies der Anwalt, begeht er bei der Personenschadensregulierung einen Kardinalfehler.

 

Rz. 9

Bevor der Anwalt die medizinischen Berichte liest, ist es ganz wichtig, dass er seinen Mandanten zum Hergang des Unfalls befragt. Denn jeder Unfall hat einen sehr speziellen Hergang, der, wenn er genau analysiert wird, Rückschlüsse auf die zu erwartenden späteren Verletzungsfolgen zulässt. Es ist genau zu erforschen, was in dem Moment des Unfalls mit dem Verunfallten passiert ist. Hier ist es wichtig, in welcher Position der Körper des Verunfallten war, wie er gefallen ist oder gegen was er geprallt ist. In erster Linie sind die Erinnerungen des Verunfallten entscheidend, mitunter aber auch Aussagen von Mitinsassen. Wenn dies nicht zeitnah festgehalten wird, werden die Erinnerungen immer schwächer und es gehen wertvolle Informationen verloren. Die polizeilichen Protokolle sind hier weniger geeignet, weil diese immer erst gefertigt werden, nachdem der Unfall geschehen ist bzw. nachdem der Verletzte schon ins Krankenhaus tra...

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