Rz. 81
Grundsätzlich hängt das Vorliegen einer Obliegenheitsverletzung wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort von der Strafbarkeit gem. § 142 StGB ab. Danach besteht auch bei eindeutiger Haftungslage eine Wartepflicht, z.B. bei einem Unfall mit einem parkenden Fahrzeug (BGH VersR 2000, 222), da sich das Aufklärungsinteresse des Versicherers auch auf das Vorliegen der Voraussetzungen gem. § 81 VVG oder anderweitiger Obliegenheitsverletzungen bezieht. Bei einem erlaubten Entfernen vom Unfallort und nachträglicher Mitteilung an den Versicherer zu einem Zeitpunkt, zu dem gem. § 142 Abs. 2 StGB eine Mitteilung an den Geschädigten eine Strafbarkeit noch hätte verhindern können, liegt keine Aufklärungsobliegenheitsverletzung vor (BGH v. 21.11.2012 – IV ZR 97/11 – VersR 2013, 175 = zfs 2013, 91 = DAR 2013, 79).
Es wird die Auffassung vertreten, wonach in der Fassung des E.1.3 AKB 2008 eine eigenständige versicherungsrechtliche Wartepflicht vereinbart sein soll, welche unabhängig von der Strafbarkeit des § 142 StGB bestehen und über diese hinausgehen soll (OLG Stuttgart zfs 2015, 96; OLG Frankfurt am Main r+s 2016, 70; KG r+s 2016, 73; Prölss/Martin-Knappmann, VVG, AKB 2008 D Rn 21; Makowsky, JR 2014, 165; Tomson/Kirmse, VersR 2013, 177), sodass der Versicherungsnehmer unter Umständen bis zum Eintreffen der Polizei oder sogar unbegrenzt warten müsste, selbst wenn kein Fremdschaden entstanden ist. Diese Auffassung übersieht jedoch, dass nach der ständigen Rechtsprechung des BGH Versicherungsbedingungen entsprechend dem Verständnis des durchschnittlichen Versicherungsnehmers auszulegen sind. Dieser wird auch bei der Formulierung gem.E.1.3 AKB 2008 den Bezug zur Straftat des unerlaubten Entfernens vom Unfallort (§ 142 StGB) erkennen und daher nicht davon ausgehen, dass von ihm versicherungsrechtlich mehr verlangt wird als strafrechtlich. Dementsprechend ist auch bei der Obliegenheit des E.1.3 AKB 2008 davon auszugehen, dass eine Aufklärungspflichtverletzung nur bei Erfüllung des Straftatbestandes des § 142 StGB vorliegt (OLG Hamm r+s 2018, 423; OLG Saarbrücken r+s 2016, 287; OLG München zfs 2016, 274; Maier, r+s 2016, 64; Rixecker, zfs 2015, 99; Staudinger/Friesen, DAR 2014, 757).
In den neuesten Bedingungen (E.1.1.3 AKB 2015) ist eine Klarstellung dahingehend erfolgt, dass die Obliegenheit ausdrücklich an die Strafbarkeit gem. § 142 StGB gekoppelt ist. Insoweit ist geklärt, dass die neuen AKB 2015 keine versicherungsvertragliche Pflicht zur Ermöglichung nachträglicher Feststellungen im Sinne des § 142 Abs. 2 StGB (nach erlaubtem Entfernen vom Unfallort) enthalten (OLG Celle zfs 2019, 393; OLG Dresden VersR 2019, 349).
Rz. 82
Keine Wartepflicht besteht lediglich bei einem ausschließlichen Schaden am eigenen Fahrzeug oder Leasingfahrzeug mangels Fremdschadens (OLG Hamm VersR 1998, 311). Auch keine Wartepflicht besteht bei einem völlig belanglosen Fremdschaden (Grenze ca. 25–50 EUR), da mit Ansprüchen Dritter dann nicht gerechnet werden muss.
Rz. 83
Hinweis
Die Versicherer gehen gerne nach einer Einstellung des Strafverfahrens wegen unerlaubten Entfernens vom Unfallort gem. § 153a StPO gegen Auflage davon aus, dass damit die Obliegenheitsverletzung feststehe und folglich die Leistungsfreiheit bzw. in der KH-Versicherung der Regress eröffnet wäre. Diese Annahme ist unzutreffend, da bei einer Einstellung gem. § 153a StPO die Unschuldsvermutung gem. Art. 6 EMRK bestehen bleibt. Vielmehr hat der Versicherer die Voraussetzungen der Obliegenheitsverletzung im Streitfalle voll zu beweisen. Dies wird gelegentlich auch von den Instanzgerichten nicht ausreichend berücksichtigt.