Rz. 176
Aufgrund der oben genannten (siehe Rdn 139) vielfachen Anwendungsfälle der neuen Leistungskürzung stellt sich die Frage, wie damit umzugehen ist, wenn mehrere grob fahrlässige Verstöße des Versicherungsnehmers vorliegen, die jeweils eine Leistungskürzung rechtfertigen. Gerade im Bereich der Kraftfahrtversicherung sind in der Praxis derartige Fälle mit mehreren Verstößen häufig.
Rz. 177
Beispiel
Der vollkaskoversicherte Versicherungsnehmer verursacht im Zustand der relativen Fahruntüchtigkeit einen Unfall und macht später Falschangaben im Schadenformular. Es soll davon ausgegangen werden, dass beide Verstöße grob fahrlässig begangen wurden und kausal geworden sind.
Rz. 178
Wenn davon ausgegangen wird, dass beide Verstöße jeweils für sich betrachtet eine mittlere Leistungskürzung entsprechend einer Quote von 50 % rechtfertigen, stellt sich die Frage, nach welcher Quote der Versicherungsnehmer letztlich die Leistung erhält.
Rz. 179
Hierbei gibt es vier Möglichkeiten:
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Quotenaddition, |
▪ |
Quotenmultiplikation, |
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Gesamtbewertung mit einheitlicher Leistungsquote, |
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Quotenkonsumption. |
Rz. 180
Bei der Quotenaddition würde der Versicherungsnehmer im obigen Beispiel keine Leistung erhalten, weil die beiden Quoten der Leistungskürzung von 50 % addiert würden. Bei dieser Rechenweise gilt bei mehreren Verstößen schnell wieder das "Nichts"-Prinzip.
Rz. 181
Bei der Quotenmultiplikation wird mit den Quoten nacheinander – von der ursprünglich vollen Leistung ausgehend – jeweils vom verbleibenden Teil gekürzt, also zunächst 50 % der vollen Leistung, dann 50 % von den verbleibenden 50 % = 25 % usw. Auch diese Rechenweise führt schnell zu im Ergebnis verhältnismäßig kleinen Leistungsquoten.
Rz. 182
Die Gesamtbewertung geht nicht mathematisch vor, sondern ermittelt eine einheitliche Gesamtquote unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles. Der Arbeitskreis IV des 46. Deutschen Verkehrsgerichtstages 2008 hat sich in seiner Empfehlung Nr. 6 für dieses Modell ausgesprochen und angefügt, dass die Quotenmultiplikation hierbei eine Hilfsüberlegung sein könne.
Rz. 183
Felsch (a.a.O.) favorisiert demgegenüber die Quotenkonsumption. Gedanke ist, dass lediglich die für den Versicherungsnehmer höchste Leistungskürzungsquote berücksichtigt wird und alle anderen Verstöße davon überlagert und konsumiert werden. Für den Versicherungsnehmer ist dies zwar die günstigste Lösung. Sie kann im Ergebnis jedoch nicht überzeugen, da nur der schwerste Verstoß berücksichtigt wird, während alle weiteren Verstöße im Ergebnis "unter den Tisch fallen".
Rz. 184
Im Ergebnis dürfte entsprechend der Empfehlung des Deutschen Verkehrsgerichtstages wohl einem Mix von Gesamtbewertung und Quotenmultiplikation zuzustimmen sein, wonach die Einzelquote des schwersten Verstoßes – ähnlich der Gesamtstrafenbildung – angemessen erhöht wird (Langheid/Rixecker, VVG, 6. Auflage 2019, § 28 Rn 85ff.; Prölss/Martin-Armbrüster, § 28 VVG Rn 231; LG Dortmund VersR 2010, 1594; ebenso "Goslarer Orientierungsrahmen", zfs 2010, 12; Nugel, Kürzungsquoten, § 1 Rn 57 f.).
Rz. 185
Zu den Besonderheiten mehrerer Obliegenheitsverletzungen in Bezug auf die Höchstbeträge der Leistungsfreiheit nach KfzPflVV in der KH-Versicherung vgl. die Ausführungen oben (siehe Rdn 106 ff.).