Prof. Dr. Karsten Metzlaff
A. Grundlagen des Unionsrechts und Rechtsschutz – Einleitung
Rz. 1
Am 1.12.2009 ist der Vertrag von Lissabon vom 13.12.2007 in Kraft getreten. Der Vertrag hat den Vertrag über die Europäische Union (EUV) geändert sowie den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) ersetzt. Der EG-Vertrag ist umbenannt in Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). EUV und AEUV werden als Primärrecht bezeichnet.
Das Recht der Europäischen Union nimmt einen immer breiteren Raum in der anwaltlichen Beratung und Prozessführung ein. Grundlage für Rechtsakte der Organe der Europäischen Union waren bis 1.12.2009 der Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag; früher: Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – EWG-Vertrag) und der Vertrag zur Gründung der Europäischen Atom-Gemeinschaft (EURATOM). Der Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ist am 23.7.2002 außer Kraft getreten (für die Kohle- und Stahlindustrie gilt jetzt der AEUV). Die weitaus größte Bedeutung haben der an die Stelle des EG-Vertrages getretene Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) und das auf seiner Grundlage gesetzte sogenannte Sekundärrecht. Auf diesen Bereich beschränkt sich die folgende Darstellung.
Die Rechtsetzungsorgane der EU sind der Rat, die Kommission und das Europäische Parlament. Sie handeln regelmäßig durch Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse (Art. 288 AEUV).
Rz. 2
Verordnungen haben allgemeine Geltung. Sie sind in allen ihren Teilen verbindlich und gelten unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Sie werden ausschließlich im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht (nicht im Bundesgesetzblatt oder im Bundesanzeiger). Verordnungen sind danach – im deutschen Sprachgebrauch – Gesetze im materiellen Sinne.
Rz. 3
Richtlinien sind für jeden Mitgliedstaat, an den sie gerichtet werden, hinsichtlich des zu erreichenden Ziels verbindlich, überlassen jedoch den innerstaatlichen Stellen die Wahl der Form und der Mittel. Auch sie werden ausschließlich im Amtsblatt der Europäischen Union veröffentlicht. Richtlinien dienen im Wesentlichen zur Angleichung (Harmonisierung) der nationalen Rechtsordnungen. Sie müssen von den Mitgliedstaaten innerhalb einer in der jeweiligen Richtlinie gesetzten Frist in (verbindliches) nationales Recht umgesetzt werden.
Rz. 4
Richtlinien haben grundsätzlich keine unmittelbare Wirkung. Der Bürger bzw. ein Unternehmen kann sich auf die Vorschriften einer Richtlinie gegenüber Gerichten und Behörden der Mitgliedstaaten nur in Ausnahmefällen berufen. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die unmittelbare Wirkung von Richtlinienbestimmungen bejaht, wenn der Mitgliedstaat die Richtlinie nicht innerhalb der vorgesehenen Frist, unvollständig oder unzutreffend umgesetzt hat, und die Richtlinie die Rechte des Einzelnen hinsichtlich des Anspruchsinhalts, des Anspruchsinhabers und des Anspruchsverpflichteten hinreichend klar und ohne Bedingungen bestimmt, so dass sie ohne Durchführungsvorschriften des Mitgliedstaates anwendbar ist. In diesen Fällen kann sich der Einzelne auf Richtlinienbestimmungen berufen. Die unmittelbare Wirkung ist jedoch nur gegenüber den Organen des Staates (insbesondere Verwaltungsbehörden, Gerichten) gegeben. Eine sogenannte horizontale Wirkung von Richtlinien bzw. Richtlinienbestimmungen hat der EuGH bisher abgelehnt. Das bedeutet, für das Rechtsverhältnis von Bürgern oder Unternehmen untereinander haben Richtlinien keine unmittelbare Wirkung, sie gewähren keine Rechte.
Rz. 5
Eine weitere Folge nicht fristgerecht oder nicht ordnungsgemäß umgesetzter Richtlinien können unter bestimmten Umständen Schadensersatzansprüche des Bürgers oder Unternehmens gegen den Mitgliedstaat sein. Der EuGH hat (rechtsfortbildend) derartige Schadensersatzansprüche aus Unionsrecht unter drei Voraussetzungen anerkannt:
Die Rechtsnorm, gegen die verstoßen worden ist, bezweckt, dem Einzelnen Rechte zu verleihen; der Verstoß ist hinreichend qualifiziert; zwischen dem Verstoß gegen die dem Staat obliegende Verpflichtung und dem den geschädigten Personen entstandenen Schaden besteht ein unmittelbarer Kausalzusammenhang. Der Mitgliedstaat hat die Folgen der verursachten Schäden im Rahmen des nationalen Haftungsrechts zu beheben. Dabei dürfen die im Haftungsrecht des Mitgliedstaats festgelegten Voraussetzungen nicht ungünstiger sein als bei ähnlichen Klagen, die nur nationales Recht betreffen. Sie dürfen auch nicht so ausgestaltet sein, dass sie es praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren, die Entschädigung zu erlangen.
Rz. 6
Beschlüsse sind in allen ihren Teilen für diejenigen verbindlich, die in ihnen bezeichnet werden. Sie sind damit Verwaltungsakten vergleichbar. Beschlüsse werden von der Kommission vor allem in den Bereichen erlassen, in denen sie eine Verwaltungszuständigkeit hat, wie etwa dem Wettbewerbsrecht (Art. 101 ff. AEUV) oder im Bereich der Aufsicht über staatliche Beihilfen (Art. 107 ff. AEUV). Bei dem Beschluss kommt es nicht ...