Rz. 419
Über den Fall der positiven Kenntnis des Versicherers hinaus können die Rechte des Versicherers wegen der Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht nach der Rechtsprechung auch dann ausgeschlossen sein, wenn der Versicherer eine ihm obliegende Rückfrage unterlässt und damit von einer ordnungsgemäßen Risikoprüfung absieht. Eine Nachfrageobliegenheit des Versicherers besteht immer dann, wenn der Antragsteller bei Antragstellung ersichtlich unvollständige oder unklare Angaben macht. Unklare Angaben liegen insbesondere vor bei einer offensichtlichen Diskrepanz der Angabe des Antragstellers. Kommt der Versicherer dieser Obliegenheit nicht nach, sind die Rechte des Versicherers wegen Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht nach § 19 VVG ausgeschlossen. Erfolgt eine Nachfrage des Versicherers und gibt der Versicherungsnehmer daraufhin an, eine – angegebene – "Colitis" sei ausgeheilt, besteht kein Anlass für den Versicherer, die Richtigkeit dieser Bestätigung zu recherchieren. Das mag anders sein, wenn der Versicherungsnehmer eine fortdauernde Medikation angibt.
Rz. 420
Eine Nachfrage des Versicherers beim Versicherungsnehmer soll in der Lebensversicherung beispielsweise erforderlich sein, wenn ein Versicherungsnehmer bei Abschluss eines Lebensversicherungsvertrags mit Berufsunfähigkeitsschutz gegenüber dem Versicherungsvertreter auf das Vorliegen einer Erbkrankheit (hier: Kleinwüchsigkeit) hinweist, ohne diese und ihre medizinischen Auswirkungen näher bezeichnen zu können. Ebenso muss der Versicherer beim Antragsteller nachfragen und für die Schaffung klarer Verhältnisse sorgen, wenn dieser angibt, er sei "immer mal wieder beim Arzt" gewesen. Dagegen gibt nach der Rechtsprechung die Angabe einer sechs Jahre zurückliegenden Entfernung eines Leberflecks keinen Anlass zur Nachfrage nach Hautkrebs. Aufgrund der Angaben im Antragsformular "leichte Rückgratverkrümmung" obliegt dem Versicherer keine Nachfrageobliegenheit. Gibt der Versicherungsnehmer im Antrag als Krankheit "Neurodermitis seit Geburt", sowie regelmäßige Einnahme der Medikamente "Loragamma" und "Dermatop" an, besteht kein Anlass zur Nachfrage nach Asthma bronchiale. Aus dem Umstand, dass ein Versicherer in dem Antragsformular nach dem Bestehen einer Krankenversicherung fragt und im Bedingungswerk die Möglichkeit der Zusammenführung von Daten vorgesehen ist, resultiert keine generelle Nachfrageobliegenheit. Hat der Antragsteller das Antragsformular vollständig ausgefüllt, besteht ein Rückfragerfordernis des Versicherers nur, wenn die beantworteten Gesundheitsfragen Veranlassung zu weiteren Recherchen geben.
Rz. 421
Eine Nachfrageobliegenheit des Versicherers besteht auch dann, wenn der Antragsteller gegenüber dem das Antragsformular ausfüllenden Versicherungsvertreter unvollständige Angaben gemacht hat. In diesem Fall ist die Kenntnis des Versicherungsvertreters nach der "Auge-und-Ohr"-Rechtsprechung dem Versicherer zuzurechnen. Dies gilt auch dann, wenn der Versicherer selbst keine Kenntnis von denjenigen Umständen erlangt hat, die zur Nachfrage Anlass gegeben haben. Unterbleibt in diesem Fall eine Nachfrage, kann sich der Versicherer gem. § 242 BGB nicht auf die Unvollständigkeit der Angaben des Antragstellers berufen.
Rz. 422
Beachte
Es ist nicht Inhalt der Nachfrageobliegenheit, die Angaben des Versicherungsnehmers hinsichtlich ihrer Richtigkeit zu überprüfen. Hat der Versicherungsnehmer inhaltlich unrichtige, aber eindeutige Angaben gemacht, sind die Rechte des Versicherers wegen Verletzung der vorvertraglichen Anzeigepflicht deshalb nicht ausgeschlossen.