Rz. 240
Unabhängig von der Fälligkeit der Versicherungsleistung nach § 14 VVG ist der Versicherer in der Lebensversicherung zur Leistung nur gegen Aushändigung des Versicherungsscheins verpflichtet. Kann der Versicherungsschein nicht eingereicht werden, braucht der Versicherer nur gegen gerichtliche Kraftloserklärung im Wege des Aufgebotsverfahrens (§§ 466 ff. FamFG) die Leistung auszuzahlen bzw. einen Ersatzversicherungsschein auszustellen (§ 3 Abs. 3 VVG).
Rz. 241
Dies folgt aus den Versicherungsbedingungen (z.B. § 8 Abs. 2 der Musterbedingungen des GDV für die Rentenversicherung mit aufgeschobener Rentenzahlung) i.V.m. § 4 VVG, § 808 Abs. 1 BGB. Durch die sog. Inhaberklausel wird der Versicherungsschein in der Lebensversicherung zum qualifizierten Legitimationspapier. Dadurch wird der Versicherer grundsätzlich dann von seiner Leistungspflicht befreit, wenn er an den Inhaber des Versicherungsscheins leistet, auch wenn dieser zum Empfang der Versicherungsleistung nicht berechtigt ist. Die Inhaberklausel ist wirksam. Die Legitimationswirkung des Versicherungsscheins erstreckt sich auch auf das Kündigungsrecht und das Recht, den Rückkaufswert aus dem Versicherungsvertrag zu erlangen. Die Legitimationswirkung der Inhaberklausel greift auch dann, wenn der Inhaber des Versicherungsscheins aufgrund eines insolvenzrechtlichen Verfügungsverbots materiell-rechtlich nicht Inhaber der Rechte aus dem Versicherungsvertrag werden konnte. Eine fehlgeschlagene Abtretung steht insofern der Legitimationswirkung des Inhaberscheins nicht entgegen.
Rz. 242
Das Eigentum am Versicherungsschein steht folglich dem Gläubiger der Forderung zu – § 952 Abs. 1 BGB. Soweit die Rechte bei einem Versicherungsvertrag im Rahmen der betrieblichen Altersversorgung dem Versicherungsnehmer zustehen, ist dies der Arbeitgeber, bei Insolvenz des Arbeitgebers der Insolvenzverwalter. Ein Versicherer, der an einen Dritten zahlt, der den Versicherungsschein in Händen hat, ist aufgrund der Formulierung des § 8 Abs. 2 der Musterbedingungen des GDV für die Rentenversicherung mit aufgeschobener Rentenzahlung nicht gezwungen, von der Legitimationswirkung Gebrauch zu machen, wenn er später erkennt, dass der Dritte nicht der wahre Gläubiger ist. Muss der Dritte deshalb die Versicherungsleistung an den Versicherer zurückzahlen, hat der Dritte kein schützenswertes Interesse daran, die Rückzahlung von der Rückgabe des Versicherungsscheins abhängig zu machen, wenn der Versicherer an den tatsächlich Berechtigten gezahlt hat, denn dann ist der Versicherer berechtigter Eigentümer des Versicherungsscheins. Von der Legitimationswirkung Gebrauch machen muss der Versicherer jedoch, wenn er Zweifel an der materiellen Berechtigung des Inhabers des Versicherungsscheins hat und sich in Anbetracht dessen entschieden hat, im Hinblick auf die Legitimationswirkung gleichwohl an diesen zu zahlen.
Rz. 243
Beachte
Ob die Legitimationswirkung des Versicherungsscheins auch zuungunsten Geschäftsunfähiger greift, ist bisher nicht abschließend geklärt. Zumindest dann, wenn der Versicherer ohne Vorlage der nach § 1800 Abs. 1 BGB erforderlichen Genehmigung an den Vormund eines Mündels leistet, ist der Versicherer nicht schutzbedürftig und kann sich daher nicht wirksam auf die Legitimationswirkung des Versicherungsscheins berufen.
Rz. 244
Auf die Legitimationswirkung kann sich der Versicherer nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht berufen, wenn er die mangelnde Verfügungsberechtigung des Inhabers positiv gekannt oder sonst gegen Treu und Glauben die Leistung bewirkt hat. Der Versicherer kann auch dann mit befreiender Wirkung leisten, wenn er grob fahrlässig keine Kenntnis von der Nichtberechtigung des Inhabers hatte. Eine Leistung, mit welcher der Versicherer gegen die Grundsätze von Treu und Glauben (§ 242 BGB) verstößt, liegt beispielsweise vor, wenn der Versicherer die Versicherungsleistung gegen Einreichung des Versicherungsscheins an einen vermeintlichen Zessionar und nicht an den Bezugsberechtigten auszahlt, obwohl die für die Beurteilung der Unwirksamkeit der Abtretung zugrunde liegenden Tatsachen bekannt waren.
Rz. 245
Erklärt der Versicherer in dem Fall, dass eine Sicherungsabtretung der Ansprüche aus einem Lebensversicherungsvertrag vorliegt und er ein berechtigtes Interesse daran hat sicherzustellen, dass er mit befreiender Wirkung leistet, gegenüber dem Anspruchsteller, er leiste nicht nur gegen Vorlage des Versicherungsscheins sondern auch gegen Vorlage einer schriftlichen Zustimmung des Versicherungsnehmers, dann ist diese Erklärung dahingehend auszulegen, dass der Versicherer auf die Aushändigung der Urkunde nur gegen Vorlage einer aktuellen Zustimmungserklärung des Versicherungsnehmers verzichtet.