Ralf Knaier, Dr. Peter Stelmaszczyk
Rz. 526
Gem. § 76 Abs. 1 AktG leitet der Vorstand einer AG die Gesellschaft unter eigener Verantwortung. Ihm obliegt die Geschäftsführungsbefugnis (§ 77 Abs. 1 AktG). Eine originäre Zuständigkeit der Hauptversammlung für Geschäftsführungsentscheidungen ist gesetzlich nicht vorgesehen. Der Vorstand kann allerdings gem. § 119 Abs. 2 AktG die Hauptversammlung mit Fragen der Geschäftsführung befassen. Ob der Vorstand einen derartigen Hauptversammlungsbeschluss herbeiführen lässt, liegt nach dem Wortlaut von § 119 Abs. 2 AktG grds. allein im eigenverantwortlichen Ermessen des Vorstandes.
Rz. 527
In der Holzmüller-Entscheidung hat der BGH unter dem Stichwort "ungeschriebene Hauptversammlungskompetenzen" jedoch entschieden, dass bei bestimmten Geschäftsführungsmaßnahmen eine Ermessensreduktion bestehen kann und dass der Vorstand dann verpflichtet ist, einen Beschluss der Hauptversammlung gem. § 119 Abs. 2 AktG herbeizuführen.
Im konkreten Fall hatte eine AG den wertvollsten Teil ihres Gesellschaftsvermögens (ca. 80 %) auf eine durch eine Sachgründung errichtete Tochtergesellschaft in der Rechtsform der KGaA im Wege der Einzelübertragung ausgegliedert.
Die Gesellschafterrechte an der Tochtergesellschaft übt der Vorstand der Muttergesellschaft im Rahmen seiner Leitungsfunktion nach § 76 Abs. 1 AktG unter eigener Verantwortung aus. Der Vorstand kann daher in der Hauptversammlung der KGaA frei über die Wahl und Entlastung des Aufsichtsrates, die Entlastung der persönlich haftenden Gesellschafter, die Feststellung und Verwendung des Jahresabschlusses oder auch Kapitalerhöhungen entscheiden. Die Aktionäre der Muttergesellschaft haben dagegen keine Möglichkeit, den Einsatz des in die Tochtergesellschaft übertragenen Betriebskapitals, das Risiko seines Verlusts und die Verwendung der durch seinen Einsatz erzielten Erträge unmittelbar zu beeinflussen. Sie haben damit hinsichtlich des Großteils des Gesellschaftsvermögens ihre gem. § 119 Abs. 1 AktG der Hauptversammlung vorbehaltenen Befugnisse verloren. Die Stellung der Aktionäre der Muttergesellschaft hat sich durch die Ausgliederung somit zwar rechtlich nicht verändert. Faktisch sind ihre Mitbestimmungsrechte jedoch verkürzt worden, weil durch die Gründung der Tochtergesellschaft wesentliche Entscheidungskompetenzen über das Gesellschaftsvermögen auf den Vorstand verschoben wurden.
Aufgrund dieser faktischen Kompetenzverschiebung zugunsten des Vorstandes hatte der BGH entschieden, dass durch die Ausgliederung "so tief in die Mitgliedsrechte der Aktionäre und deren im Anteilseigentum verkörpertes Vermögensinteresse" eingegriffen wurde, dass "der Vorstand vernünftigerweise nicht annehmen konnte, er dürfe über sie ausschließlich in eigener Verantwortung entscheiden, ohne die Hauptversammlung zu beteiligen"
Entsprechend den vom BGH aufgestellten Grundsätzen wurden in der Folgezeit von Instanzgerichten bei Ausgliederungen im Wege der Einzelrechtsnachfolge häufig ebenfalls Hauptversammlungsbeschlüsse verlangt.
Rz. 528
Indessen warf die Holzmüller-Entscheidung auch viele Folgefragen auf. So war zunächst unklar, mit welcher Mehrheit der Hauptversammlungsbeschluss gefasst werden oder welches Erheblichkeitsausmaß die Ausgliederung haben muss. Im Laufe der Diskussion wurden die ungeschriebenen Hauptversammlungskompetenzen dabei tendenziell ausgeweitet. So wurde teilweise die Meinung vertreten, dass eine Entscheidungskompetenz der Hauptversammlung bei Ausgliederungen grds. gegeben sei, sodass der Vorstand nur dann allein entscheidungsbefugt sei, wenn durch die Ausgliederung nur ein geringer Teil des Gesellschaftsvermögens berührt werde. Es wurden dazu im Schrifttum unterschiedliche Schwellenwerte diskutiert (z.B. 20 % – 25 % des unternehmerischen Vermögens der Obergesellschaft). Ein allgemeiner Konsens konnte allerdings nicht erzielt werden.
Rz. 529
Der BGH hat in seinen beiden Gelatine-Entscheidungen die Reichweite ungeschriebener Hauptversammlungskompetenzen bei Ausgliederungen konkretisiert und zugleich auch deutlich "zurückgestutzt". Der BGH betont, dass eine zwingende Mitwirkung der Hauptversammlung bei Geschäftsführungsmaßnahmen des Vorstandes nur ausnahmsweise und in engen Grenzen in Betracht kommt. Er verwirft die im Schrifttum genannten Schwellenwerte, die zwischen 10 % und 50 % des Gesellschaftsvermögens variieren, als zu niedrig und führt aus, dass ein relevanter Eingriff in die Mitgliedsrechte der Aktionäre erst dann vorliegt, wenn die Ausgliederung in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft die Ausmaße der Ausgliederung im "Holzmüller-Fall" erreicht. Konkrete Schwellenwerte nennt der BGH nicht. Aber es steht nun fest, dass nur besonders schwerwiegende Fälle der Vermögensverlagerung von der AG auf eine Tochtergesellschaft zustimmungspflichtig sind.
Sofern eine Ausgliederung wesentliche Teile des Gesellschaftsvermögens berührt und daher zustimmungspflichtig ist, verlangt der BGH nunmehr eine qualifizierte Mehrheit von 75 % des vertretenen Grundkapit...