Rz. 47
Bis zum Urteil des BGH aus dem Jahre 2012 wurde höchstrichterlich die Theorie der Doppelberechtigung vertreten, wonach ein Pflichtteilsergänzungsanspruch nur gegeben war, wenn die Pflichtteilsberechtigung schon im Zeitpunkt der Schenkung vorlag. Der BGH hat diese Theorie durch Urt. v. 23.5.2012 aufgegeben. Tatsächlich fand die Theorie der Doppelberechtigung weder im Gesetz noch in der Entstehungsgeschichte des § 2325 BGB eine Stütze. Der BGH hatte für seine Theorie bis dahin eher subjektive Elemente angeführt und etwa den Gedanken des Vertrauensschutzes bzw. der Kenntnis und Eingewöhnung des Pflichtteilsberechtigten in geänderte Vermögensverhältnisse des Erblassers für die Doppelberechtigung streiten lassen. Allerdings sind diese Elemente gerade keine Voraussetzung des Pflichtteils- oder Pflichtteilsergänzungsanspruchs. So hat der BGH also seit dem Jahre 2012 diese Theorie aufgegeben und sich der bis dahin auch in der Literatur bereits überwiegend vertretenen Rechtsauffassung angeschlossen, dass ein Pflichtteilsergänzungsanspruch nicht nur demjenigen zusteht, der im Zeitpunkt der Vornahme der Schenkung schon pflichtteilsberechtigt war, sondern allen im Zeitpunkt des Erbfalls Pflichtteilsberechtigten.
Rz. 48
Diese Entscheidung des BGH betraf indes den Fall hinzugekommener Kinder. Für den neu hinzutretenden Ehegatten ist allerdings weiter umstritten, ob an der Theorie der Doppelberechtigung festgehalten werden muss oder nicht. Hat eine zweite Ehefrau Pflichtteilsergänzungsansprüche wegen solcher Schenkungen des Ehegatten, die dieser an die erstehelichen Kinder vollzogen hat, bevor er erneut geheiratet hat? Gerade für den Fall der Übergabe eines Unternehmens kann das durchaus einmal praxisrelevant werden. Man stelle sich vor, der Erblasser, geschieden oder verwitwet, überträgt seine Firma an seinen erstehelichen Sohn und heiratet dann später neu. Wenn er dann kurze Zeit danach verstirbt, könnte die zweite Ehefrau des Erblassers nunmehr von dem Sohn Pflichtteilsergänzung nach § 2325 BGB unter Zugrundelegung des gesamten Wertes des übertragenen Unternehmens verlangen?
Rz. 49
Der BGH hat zu dieser Problematik bislang noch nichts entscheiden müssen. In der Literatur wird gelegentlich darauf hingewiesen, dass das Pflichtteilsrecht des Ehegatten im Gesetz ja doch an einigen Stellen anders geregelt sei als das der Abkömmlinge, man denke nur an die Regelung des § 1586b Abs. 1 BGB sowie an die Regelung des § 2325 Abs. 3 S. 2 BGB, wonach ja bei Schenkungen an Ehegatten die Zehnjahresfrist nicht zu laufen beginnt. Dem hält Keim entgegen, es sei kein sachlicher Grund dafür ersichtlich, den Ehegatten nunmehr noch anders zu behandeln als hinzukommende Kinder. Schließlich habe es der neu heiratende Erblasser ja selbst in der Hand, durch einen Pflichtteilsverzichtsvertrag die erstehelichen Kinder von Pflichtteilsergänzungsansprüchen des neuen Partners freizustellen. Ist das Problem erkannt, sind also entsprechende Regelungen nahezu unabdingbar, um die Firma in ihrem Bestand zu sichern.