I. Allgemeines
Rz. 38
Die Stellung des nicht befreiten Vorerben ist rechtlich eine treuhänderische Vermögensherrschaft und wirtschaftlich vergleichbar der eines Nießbrauchers. Im Verhältnis zum Nacherben gebühren ihm die gesamten Nutzungen (§ 100 BGB) der Erbschaft, im Gegenzug treffen ihn die gewöhnlichen Erhaltungskosten (§ 2124 Abs. 1 BGB) sowie die Kosten der Fruchtziehung. Jedoch ist er für die Dauer der Vorerbschaft "wahrer" Erbe, also Eigentümer des Nachlasses und daher nach § 2112 BGB (mit gewichtigen Ausnahmen, §§ 2113 f. BGB) zur Verfügung über Nachlassgegenstände berechtigt.
Rz. 39
Nach dem Eintritt des Nacherbfalls ist der nicht befreite Vorerbe gem. § 2130 Abs. 1 S. 1 BGB verpflichtet, dem Nacherben die Erbschaft in dem Zustand herauszugeben, der sich bei einer bis zur Herausgabe ordnungsmäßigen Verwaltung ergibt. Er ist deshalb gehalten, nicht gegen die Grundsätze einer ordnungsgemäßen Verwaltung zu verstoßen. Die Auskunfts- und Sicherungsrechte des Nacherben gegenüber dem nicht befreiten Vorerben aus §§ 2127, 2128 BGB machen aus der Abrechnungspflicht eine Verwaltungspflicht im Erbschaftsinteresse des Nacherben. Zwischen Vor- und Nacherbe besteht ein gesetzliches Schuldverhältnis, das bei einem Verstoß zu Schadensersatzansprüchen führen kann.
Hat der Erblasser den Vorerben demgegenüber von den gesetzlichen Beschränkungen und Verpflichtungen im Rahmen des Möglichen (§ 2136 BGB) befreit, ist dessen Rechtsposition wesentlich komfortabler: Der Vorerbe darf den Nachlass für sich verbrauchen, herauszugeben ist nur, was übrig bleibt.
II. Rechtsstellung des Vorerben im Prozess
1. Prozessführungsbefugnis
Rz. 40
Der Vorerbe ist uneingeschränkt für sämtliche den Nachlass betreffende Klagen aktiv und passiv prozessführungsbefugt. Dies gilt auch soweit er in seiner Verfügungsbefugnis nach §§ 2113 f. BGB beschränkt ist, denn die Prozessführung als solche stellt keine Verfügung über das streitbefangene Recht dar.
2. Eintritt des Nacherbfalls während des Prozesses
Rz. 41
Tritt der Nacherbfall während des Prozesses ein, so ist zu unterscheiden, ob der Vorerbe
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zur Verfügung über den Streitgegenstand befugt ist (vgl. Rdn 42) oder |
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zur Verfügung über den Streitgegenstand der Zustimmung des Nacherben bedarf (vgl. Rdn 43). |
a) Vorerbe ist zur Verfügung über den Streitgegenstand befugt
Rz. 42
Wenn der Vorerbe ohne Zustimmung des Nacherben über den der Nacherbfolge unterliegenden Streitgegenstand verfügen konnte, wird der Rechtsstreit zwischen dem Vorerben und dem Dritten nach §§ 242, 239 Abs. 1 ZPO unterbrochen. Die Parteistellung geht auf den Nacherben über, dieser wird prozessual wie der Rechtsnachfolger des Vorerben behandelt. War der Vorerbe durch einen Prozessbevollmächtigten vertreten, tritt nach § 246 ZPO keine Unterbrechung ein, das Verfahren ist jedoch auf Antrag auszusetzen.
b) Vorerbe bedarf zur Verfügung über den Streitgegenstand der Zustimmung des Nacherben
Rz. 43
Führt demgegenüber der Vorerbe einen Aktivprozess über einen Streitgegenstand, über den er nur mit Zustimmung des Nacherben verfügen konnte, entfällt seine Aktivlegitimation. Der Vorerbe kann, um eine Klageabweisung zu vermeiden, nur die einseitige Erledigung der Hauptsache erklären. Allerdings kann der Nacherbe die Prozessführung noch im Nachhinein – auch nach Eintritt des Nacherbfalls – genehmigen.
Wurde der Vorerbe mit einem Passivprozess überzogen, der einen Nachlassgegenstand betraf, über den er nur mit Zustimmung des Nacherben verfügen konnte, scheidet ein gesetzlicher Übergang der Parteistellung ebenfalls aus. Das Verfahren kann hier fortgeführt werden, soweit der Vorerbe für Nachlassverbindlichkeiten nach § 2145 BGB weiter haftet. Andernfalls muss der Kläger die Hauptsache für erledigt erklären, um einer Klageabweisung zu entgehen.
3. Abgabe einer Willenserklärung
Rz. 44
Bei einer Klage gegen den Vorerben auf Abgabe einer Willenserklärung (§§ 894, 895 ZPO) ist zu beachten, dass eine Verurteilung nicht mehr bewirken kann als eine von dem Vorerben vorgenommene rechtsgeschäftliche Verfügung. Dies bedeutet, dass der Nacherbe nur dann ein Urteil gegen sich gelten lassen muss, wenn der Vorerbe insoweit ohne seine Zustimmung über den Streitgegenstand verfügen könnte. Der Nacherbe ist daher in den Fällen der §§ 2113, 2114 BGB nicht an das Urteil gebunden.
Rz. 45
Hinweis
Damit sich die Bindungswirkung auf den Nacherben erstreckt, muss dieser in den Fällen der §§ 2113, 2114 BGB mitverklagt werden. Vorerbe und Nacherbe sind in diesem Fall nur einfache Streitgenossen, weil die Klage denkbar nur gegen den Vorerben Erfolg hat. Die Klage gegen den Nacherben ist nur dann begründet, wenn der Nacherbe verpflichtet ist, der Verfügung zuzustimmen (§ 2120 BGB, vgl. Rdn 56).