Rz. 122

Die "Flucht" vor der MPU ist einer der Hauptgründe für den "Führerscheintourismus". Ist zur Erteilung/Wiedererteilung einer FE im Inland eine MPU notwendig, so wird häufig versucht, über den Erwerb einer EU-Fahrerlaubnis in einem anderen EU-Mitgliedstaat, der derartiges als Erwerbsvoraussetzung nicht vorsieht, das Recht zum Führen eines Fahrzeugs im Inland zu erreichen. Letztendlich geht es in solchen Fällen dann um die Anerkennung der im EU-Mitgliedstaat erteilten FE im Inland.

 

Rz. 123

Nach der Rechtsprechung des EuGH besteht grundsätzlich eine Anerkennungspflicht für die in einem anderen EU-Mitgliedstaat erteilte FE. Der EuGH hat das Anerkennungsprinzip in Stein gemeißelt. Ausnahmen hiervon sind eng auszulegen. Es ist sowohl unter der Geltung der Zweiten als auch der Dritten Führerscheinrichtlinie zu beachten.[265]

 

Rz. 124

Dabei ist es Aufgabe des Ausstellermitgliedstaats, zu prüfen, ob alle Voraussetzungen erfüllt sind und ob die FE zu erteilen ist. Wenn die Behörden eines Mitgliedstaats einen Führerschein ausgestellt haben, sind die anderen Mitgliedstaaten daher nicht befugt, die Beachtung der im Unionsrecht vorgesehenen Ausstellungsvoraussetzungen nachzuprüfen. Der Besitz eines von einem Mitgliedstaat ausgestellten Führerscheins ist nämlich als Nachweis dafür anzusehen, dass der Inhaber dieses Führerscheins am Tag seiner Ausstellung die erforderlichen Voraussetzungen erfüllte.[266]

 

Rz. 125

Die Anerkennungspflicht setzt damit auch voraus, dass bei der Erteilung der FE im anderen EU-Mitgliedstaat die zu seiner Ausstellung notwendigen Voraussetzungen erfüllt waren. Dazu gehört insbesondere die Beachtung des Wohnsitzerfordernisses und die Beachtung einer im Einzelfall bestehenden Sperrfrist.[267] Eine so rechtmäßig erworbene FE im EU-Mitgliedstaat darf dann im Inland nicht die Anerkennung verweigert werden, auch wenn hier zur Erteilung eine MPU erforderlich gewesen wäre. Auch ein deutscher Staatsangehöriger kann als EU-Mitgliedstaatler im EU-Ausland unter diesen Voraussetzungen eine wirksame FE auf der Grundlage dort nicht so strenger nationaler Regelungen erwerben.[268] Es ist nach dem EuGH ausdrücklich erlaubt, von geringeren Standards anderer EU-Mitgliedstaaten profitieren zu dürfen.[269] Dies ergibt sich aus dem Recht eines Mitgliedstaatlers, sich im Hoheitsgebiet anderer Mitgliedstaaten frei bewegen zu dürfen.[270] Errichtet strengeres nationales Recht zum Führerscheinerwerb ein enges Nadelöhr, so ist es nach dem EuGH ausdrücklich gestattet, vom breiteren ausländischen Durchlass profitieren zu dürfen.

 

Rz. 126

Einen nach Aufforderung zur Beibringung einer MPU (der der Betroffene nicht gefolgt ist) und während des Laufs eines anhängigen Entziehungsverfahrens erfolgten Erwerb einer ausländischen EU-Fahrerlaubnis will das OVG Bremen[271] nicht anerkennen. Im Grunde stellt es diesen Fall mit dem Erwerb während des Laufs einer Sperrfrist gleich. Auf das Erfüllen des Wohnsitzerfordernisses kommt es dann nicht mehr an.[272]

 

Rz. 127

Unter der Vorgabe, den Führerscheintourismus bekämpfen zu wollen, wird vielfach versucht, die Anerkennung der EU-Fahrerlaubnis einzudämmen. Sah man ursprünglich in der Umgehung der im Inland geforderten MPU einen Rechtsmissbrauch als Ansatz, setzte man später in das Inkrafttreten der Dritten Führerscheinrichtlinie Hoffnung, so ist es heute das vom EuGH und nationalen Verwaltungsgerichten immer wieder bearbeitete Wohnsitzerfordernis, welches mit dem Erfordernis "vom Ausstellerstaat herrührende Informationen" nunmehr den Einstieg dahin zu bieten scheint, die Anerkennung der EU-Fahrerlaubnis verhindern zu können. Zurzeit erfolgt eine geradezu flächendeckende Beschäftigung mit der Frage der zulässigen Erkenntnisquellen zur Feststellung der "vom Ausstellerstaat herrührenden Informationen".[273] Auch die Beachtung der Sperrfrist ist immer wieder Ansatz.

 

Rz. 128

Das nach EuGH ausdrücklich formulierte Erlaubtsein, von geringeren Standards anderer EU-Mitgliedstaaten profitieren zu dürfen,[274] enthebt nicht von der Verpflichtung und Beachtung der Kriterien eines rechtmäßigen Führerscheinerwerbs im EU-Ausland.[275]

 

Rz. 129

Begeht ein FE-Inhaber nach der Erteilung einer EU-Fahrerlaubnis in der Bundesrepublik einen Verkehrsverstoß von einigem Gewicht, kann dies die Anordnung eines medizinisch-psychologischen Gutachtens und die Aberkennung der Fahrberechtigung für das Bundesgebiet rechtfertigen. Der nach Ausstellung des Führerscheins begangene Verkehrsverstoß muss dabei nicht allein geeignet sein, die Gutachtenanordnung zu rechtfertigen, sondern es ist eine Zusammenschau mit anderen älteren Zuwiderhandlungen zulässig. Die Frage, ob und welche Behörde für die Gutachtenanordnung zuständig ist, ist von den deutschen Behörden unter Würdigung aller relevanten Umstände zu prüfen. Sie sind insoweit nicht auf unbestreitbare Informationen aus dem Staat beschränkt, der den Führerschein ausgestellt hat.[276]

[265] Vgl. dazu EuGH v. 1.3.2012 – C-467/10, Rs. Akyüz, NJW 2012, 1341 = SVR 2012, 149 = DAR 2012,...

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