Rz. 128

Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat die berufsmäßige Haftung ggü. Nichtmandanten ("Berufs-, Dritthaftung") – u.a. von Rechtsanwälten, Steuerberatern und Wirtschaftsprüfern – für fehlerhafte Gutachten, Auskünfte, Berichte, Bilanzen, Testate, Prospekte und Zeugnisse beträchtlich ausgedehnt über den Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte (vgl. § 10 Rdn 1 ff.), den – insb. stillschweigend geschlossenen – Auskunftsvertrag (vgl. § 11 Rdn 1 ff.), das Verschulden bei Vertragsschluss (vgl. § 13 Rdn 1 ff.) und die Prospekthaftung (vgl. § 14 Rdn 1 ff.). Daneben wird § 826 BGB als Grundlage einer solchen Haftung herangezogen.[510]

 

Rz. 129

Ein Dritter, der nicht Auftraggeber eines Fachmanns ist, kann geschädigt werden, weil er auf eine falsche Äußerung dieses Sachkundigen vertraut. Eine Haftung des Fachmanns aus § 826 BGB setzt voraus, dass sein Verhalten gegen die guten Sitten verstoßen hat. Dafür reicht es nicht aus, dass er eine fehlerhafte Erklärung abgegeben hat.[511] Nach der Rechtsprechung des BGH kann ein bewusstes Vorgehen – etwa die Täuschung eines Gläubigers des Mandanten durch einen Rechtsanwalt[512] – sowie auch ein (nur) leichtfertiges – v.a. grob fahrlässiges – und gewissenloses Verhalten einen solchen Sittenverstoß begründen; dies liegt insb. dann nahe, wenn der Schädiger mit Rücksicht auf sein Ansehen oder seinen Beruf eine Vertrauensstellung einnimmt, oder wenn der Sachkundige wichtige Fragen zu untersuchen hat, von deren Beantwortung weittragende wirtschaftliche Folgen für die Beteiligten abhängen.[513]

 

Rz. 130

Ein leichtfertiges oder gewissenloses Verhalten des Experten kann sittenwidrig sein, wenn er

seinem Gutachten, seiner Auskunft, seiner Bilanz oder Bestätigung nachlässige Ermittlungen oder
gar Angaben "ins Blaue hinein" zugrunde legt
oder den unzutreffenden Anschein erweckt, er habe die Grundlagen seiner Expertise überprüft,
oder mit seiner fehlerhaften Äußerung den eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf die Belange Dritter sucht
oder aus sonstigen Gründen gleichgültig ggü. den Folgen seines Verhaltens ist

und damit eine Rücksichtslosigkeit ggü. dem Adressaten seiner Expertise und den in seinem Informationsbereich stehenden Dritten zeigt, die wegen der Bedeutung seiner Äußerung für deren Entschließungen und wegen der von ihm in Anspruch genommenen Fachkunde als gewissenlos bezeichnet werden muss.[514]

 

Rz. 131

Es genügt für die Haftung des Sachkundigen, der in sittenwidriger Weise einen anderen durch eine fehlerhafte Äußerung geschädigt hat, dass er mit bedingtem Vorsatz (vgl. Rdn 117) gehandelt hat; dieser kann durch die Art und Weise des Sittenverstoßes bewiesen werden (vgl. Rdn 117, 127). Insb. bei testierten Unternehmensabschlüssen muss der Experte damit rechnen, dass der Abschluss bei Kreditverhandlungen verwendet wird und den Kreditgeber zu nachteiligen Vermögenspositionen veranlasst.[515] Die Person des Geschädigten braucht der Schädiger nicht zu kennen (vgl. Rdn 118).

Diese anerkannten Grundsätze der Expertenhaftung sind auch dann zu berücksichtigen, wenn ein Wirtschaftsprüfer sich mit seinem Expertenstatus in den Dienst einer von ihm geprüften kapitalsuchenden Gesellschaft stellt und den Vertriebsmitarbeitern irreführende Verkaufsargumente über die Werthaltigkeit von Beteiligungen liefert. Setzt er sich hierbei rücksichtslos über die Interessen potenzieller Anlageinteressenten hinweg, die mit seinen Äußerungen zwangsläufig in Berührung kommen und diese im Vertrauen auf seine berufliche Integrität und seine fachliche Autorität zur Grundlage ihrer Entscheidung machen, handelt er sittenwidrig.[516]

 

Rz. 132

Die Rechtsprechung muss sich bewusst sein, dass sie i.R.d. § 826 BGB die Anforderungen an den Sittenverstoß sowie an den Vorsatz und dessen Beweis nach und nach gesenkt hat.[517] Sie muss vermeiden, durch Aushöhlung gesetzlicher Haftungsvoraussetzungen und Kumulation vertraglicher, vorvertraglicher und deliktischer Haftungstatbestände die Berufs- und Expertenhaftung ggü. Dritten (Nichtmandanten) zur Erfolgshaftung ausufern zu lassen[518] (vgl. § 8 Rdn 12). Die Unzulänglichkeit des deliktischen Vermögensschutzes (vgl. § 10 Rdn 3) muss im gesetzlichen Rahmen insoweit ausgeglichen werden, als dies unabweisbar ist zur Vermeidung von Ergebnissen, die mit dem Gerechtigkeitsempfinden schlechthin unvereinbar wären. Dies darf aber nicht dazu führen, dass vertragliche und vorvertragliche Ausnahmeinstitute der beruflichen Dritthaftung überdehnt und gesetzliche Haftungsvoraussetzungen gesenkt werden.[519]

[510] Dazu Hopt, NJW 1987, 1745; Lang, WM 1988, 1001, 1003, 1004; Müssig, NJW 1989, 1703; Henssler, JZ 1994, 178, 184; Bell, S. 33 ff.; Decku, S. 56 ff.; Otto/Mittag, WM 1996, 325, 332; Honsell, in: FS Medicus, S. 211, 215 f.; Sundermeier/Gruber, DStR 2000, 929, 931; Heppe, WM 2003, 714, 753, 761; Holzborn/Foelsch, NJW 2003, 932, 938; Janert/Schuster, BB 2005, 987, 992; D. Fischer, WM 2014, Sonderbeilage Nr. 1, S. 42; Schlick, WM 2015, 309.
[511] BGH, NJW 1991, 3282, 3283; BGHZ 159, 1, 11 ...

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