Rebecca Vollmer, Dr. Wolfgang Dunkel
Rz. 222
Vom allgemeinen Arbeitsmarktrisiko und den individuellen Beschäftigungschancen ist der Frage abzugrenzen, ob für eine bestimmte Tätigkeit überhaupt ein allgemein zugänglicher Arbeitsmarkt besteht. Ist dies nicht der Fall, kommt eine abstrakte Verweisung generell nicht in Frage. Deshalb müssen Arbeitsplätze für Verweisungstätigkeiten, die der Versicherte noch ausüben kann, auch in ausreichendem Maße tatsächlich vorhanden sein.
Rz. 223
Auf Nischentätigkeiten oder gar Phantasieberufe kann deshalb nicht verwiesen werden. Anderenfalls hätte der Versicherte von vornherein keine Aussicht darauf, der aufgezeigten Verweisungstätigkeit nachzugehen. Daher scheiden Verweisungen auf Tätigkeiten, die nur in Einzelfällen nach den besonderen Anforderungen eines bestimmten Betriebes geschaffen oder auf spezielle Bedürfnisse eines bestimmten Mitarbeiters zugeschnitten worden sind (sog. Nischenarbeitsplätze), grundsätzlich ebenso aus, wie Verweisungen auf Tätigkeiten, die auf dem Arbeitsmarkt nur in so geringer Zahl bereit stehen, dass von einem Arbeitsmarkt praktisch nicht mehr die Rede sein kann. Der Versicherungsnehmer kann auf Nischentätigkeiten ohne spezifische Tätigkeitsbeschreibungen selbst dann nicht verwiesen werden, wenn die Tätigkeit in einzelnen Stellenanzeigen beworben wird.
Beispiele
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Existiert aufgrund Umstrukturierungen der Branche nur noch bei dem einen oder anderen Speditionsunternehmen die Tätigkeit eines Hof- und Platzmeisters, wobei diese in der Regel bei Freiwerden nicht wiederbesetzt wird, bedeutet dies, dass es für derartige Tätigkeiten einen Arbeitsmarkt praktisch nicht mehr gibt. |
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Die Verweisung eines selbstständigen Bautenschützers im Ein-Mann-Betrieb (Fuger) auf den Beruf eines Sachverständigen im Bautenschutz ist nicht statthaft, weil es eine derart isolierte Tätigkeit des Sachverständigen als eigenständigen Beruf nicht gibt. |
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Ist der an Parkinson erkrankte Versicherte nur mehr in der Lage, eine Schranke zu öffnen und zu schließen, kann er in der Regel die Tätigkeit eines Pförtners nicht ausüben, da hierfür auch andere Fähigkeiten erforderlich sind. Der Beruf eines Pförtners mit derart reduzierten Fähigkeiten steht auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt so gut wie nicht zur Verfügung. |
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Eine Stellung eines Fleischers mit vorwiegend aufsichtsführender und kaufmännischer Tätigkeit in leitender Position in einem größeren Unternehmen steht auf dem Arbeitsmarkt nur in so geringer Zahl bereit, dass von einem Arbeitsmarkt praktisch nicht die Rede sein kann. |
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Eine Verweisung einer bisher im eigenen kleinen Friseursalon tätigen Friseurmeisterin auf eine leitende und aufsichtsführende Tätigkeit in einem großen Friseurbetrieb oder auf den Vergleichsberuf einer Frisurendemonstrateurin ist nicht statthaft. |
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Ein Koch, welcher wegen einer psychisch bedingten Allergie gegen Fette und Eiweiß berufsunfähig ist, kann nicht auf eine Tätigkeit als Koch in einem vegetarischen Restaurant verwiesen werden, da solche Berufe aktuell noch zu selten anzutreffen sind, so dass nicht von einem Arbeitsmarkt die Rede sein kann. |
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Ebenso ist eine Verweisung eines Fahrschulinhabers auf eine Tätigkeit als angestellter Fahrlehrer mit dem Schwerpunkt "theoretischer Unterricht und einfache Verwaltungsaufgaben" nicht möglich. |
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Ein ehemals mitarbeitender Meister in dem Kleinbetrieb kann nur dann auf eine Tätigkeit als angestellter Meister verweisen werden, wenn kleinere oder größere (Handwerks-) Betriebe überhaupt Meister anstellen. |
Rz. 224
Bei einem relativ neuen Beruf, bei dem es (noch) kein einheitliches Berufsbild mit einem einheitlichen Anforderungsprofil gibt, kann sich der Versicherer nicht darauf beschränken, generell auf den Beruf zu verweisen. Vielmehr muss er darlegen, welche berufsbildprägenden Merkmale die Verweisungstätigkeit in ihren sämtlich möglichen Ausgestaltungen aufweist.
Rz. 225
Ein allgemeiner Arbeitsmarkt steht auch für sog. Schonarbeitsplätze – die im Grunde als Unterfall der Nischenarbeitsplätze anzusehen sind – häufig nicht zur Verfügung, weil diese Arbeitsplätze (z.B. Pförtner, Registrator, Magazinverwalter, Parkplatzdisponent, Abteilungs- oder Werksbote) regelmäßig von Betrieben oder Verwaltungen für eigene leistungsgeminderte Mitarbeiter reserviert werden und damit als Eingangsberuf für betriebsfremde Personen nicht zur Verfügung stehen.
Auch dann, wenn der vormalige Arbeitsplatz beim selben Arbeitgeber leidensbedingt durch Reduzierung der Arbeitszeit und Änderung von Arbeitsbedingungen tatsächlich als "Schonarbeitsplatz" ausgestaltet wird, kann nicht auf diese neue, weniger qualifizierte und zeitlich reduzierte Tätigkeit verweisen werden. Es ist vielmehr auf den zuvor, in gesunden Tagen, ausgefüllten Arbeitsplatz abzustellen, auch wenn noch ein kleiner Ausschnitt der früheren Tätigkeiten verbleibt.
Rz. 226
Ebenso wird man auch sog. Beförderungsstellen bzw. Aufstiegspositionen in der Regel nicht dem allgemeinen Arbeitsmarkt zuordne...