Rebecca Vollmer, Dr. Wolfgang Dunkel
Rz. 203
Die Verdienstmöglichkeit stellt einen für die Prägung der bisherigen Lebensstellung gewichtigen Umstand dar. Der mögliche Verweisungsberuf muss dem Versicherten eine vergleichbare Vergütung ermöglichen, wobei die Vergütung grundsätzlich nicht unter das Niveau des zuletzt in gesunden Tagen bezogenen Einkommens absinken darf. Für die Frage, ob der Vergleichsberuf bedingungswidrig einen spürbaren sozialen Abstieg mit sich bringt, stellt die Verdienstmöglichkeit einen gewichtigen, aber nicht den einzigen Faktor dar. Eine gewisse, mit einer Verweisung in einen anderen Beruf verbundene Härte, ist hinzunehmen. Allerdings können ein Mehr an Freizeit wegen reduzierter Arbeitszeit oder angenehmere Arbeitszeiten einen erheblich geringeren Verdienst aus der Verweisungstätigkeit nicht aufwiegen, weil die soziale Stellung maßgeblich vom Einkommen geprägt wird und durch mehr freie Zeit der Lebensunterhalt nicht bestritten werden kann.
Rz. 204
Auch die private Lebenssituation, insbesondere die Frage, ob familiäre Unterhaltspflichten bestehen, ist zu berücksichtigen. Abzugrenzen hiervon sind allerdings Entwicklungen aufgrund des allgemeinen Lebensrisikos, etwa aufgrund der Steigerung der Sozialabgaben oder einer wirtschaftlichen Krisensituation, die zu einer faktischen Verringerung des Einkommens unabhängig von der neuen Tätigkeit als solcher führt (etwa Kurzarbeit). Bei der Vergleichsbetrachtung sind derartige Faktoren grundsätzlich außen vor zu lassen.
Rz. 205
Grundsätzlich gilt, dass bei höheren Einkommen eine stärkere Einbuße des Verdienstes hinzunehmen ist, wohingegen bei niedrigeren Einkünften schon ein verhältnismäßig geringer Minderverdienst unzumutbar sein kann. Eine bestimmte Prozent-Quote, ab der von einer Unzumutbarkeit auszugehen ist, lässt sich nach Rechtsprechung des BGH angesichts der Bandbreite individueller Einkommen jedoch nicht festlegen. Es ist vielmehr eine Beurteilung im Einzelfall angezeigt, da sich eine Einkommens- oder Gehaltsminderung unterschiedlich belastend auswirken kann, je nachdem ob das Einkommen oder Gehalt vor Eintritt des Versicherungsfalles hoch oder niedrig war.
So kann beispielsweise bei einem Arbeiter schon ein um 14 % geringeres Bruttoeinkommen unzumutbar sein, jedenfalls im Zusammenspiel mit einem Absinken der sozialen Wertschätzung. Bei hohem Einkommen ist eine Verweisung einhergehend mit einer Verminderung des Einkommens um 23 % jedenfalls nicht grundsätzlich ausgeschlossen; bei geringerem Einkommen eine Minderung von 22,77 % allerdings schon.
Wird jedoch die Lebensstellung des vom Versicherten ausgeübten Berufs durch saisonabhängig wiederkehrende Zeiten der Arbeitslosigkeit mitgeprägt, ist auch der Bezug von Arbeitslosengeld I beim Einkommensvergleich zu berücksichtigen, so dass eine Einkommenseinbuße von bis zu 20 % zumutbar ist.
Ein Einkommensverlust von 40 % des bisherigen monatlichen Nettoeinkommens schließt eine Verweisbarkeit in jedem Falle aus. Ein Einkommensverlust von mehr als 25 % ist in der Regel nicht zumutbar. Eine Einbuße von bis zu 10 % wird hingegen grundsätzlich bei allen Einkommensgruppen hinzunehmen sein.
Rz. 206
Ob beim Vergleich des Einkommens auf das Brutto- oder das Nettoeinkommen abzustellen ist, entscheidet sich nach den Umständen des Einzelfalls und danach, welche Methode dem Maßstab der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse am besten gerecht wird. Diese Entscheidung kann mitunter schwierig sein, da durch den Wechsel der Tätigkeit auch unterschiedliche Modalitäten der Steuer- und Sozialversicherungspflicht eine Rolle spielen können, etwa bei einem Wechsel von der Selbstständigkeit in eine angestellte Tätigkeit.
Der BGH billigt daher sowohl einen Vergleich des Einkommens nach der Brutto- wie nach der Nettomethode, sofern die tatsächliche Lebensstellung zutreffend abgebildet werden kann, zumal bei zutreffender Berücksichtigung aller relevanten Umstände beide Methoden nicht zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen dürften. Im Zweifel wird vom Nettoeinkommen auszugehen sein, da dies die Einnahmen wiedergibt, die tatsächlich regelmäßig monatlich zur Verfügung standen. Ist bei einem Angestellten die Einkommenssteuer auf das Bruttogehalt durch den Arbeitgeber nicht korrekt bzw. voll abgeführt worden, kommt es auf denjenigen Betrag an, der dem Versicherten tatsächlich netto zur Verfügung stand, das Einkommen, das er "in der Tasche hat", da dieses die Lebensstellung prägt.
Rz. 207
Ist in den AVB lediglich der Begriff des "jährlichen Einkommens" enthalten und dieser nicht näher definiert, bleibt unklar, ob hiermit das Brutto- oder das Nettoeinkommen des Versicherers gemeint ist. Sind beide Auslegungen möglich, gilt die für den Versicherungsnehmer günstigste Lösung. Allerdings kann es nicht nur auf den tatsächlichen erzielten Monatslohn ankommen, sondern auch auf den Stundenlohn. Ist dieser niedriger als früher, kann eine Verweisung unter Umständen ausscheiden, da e...